Archiv für den Monat: August 2020

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Am 15. Juni öffnet Deutschland nach fast dreimonatiger Corona-Sperre die Grenze zur Schweiz. Da bin ich schon drei Tage unterwegs, überschreite den Rhein bei Zurzach und wandere weiter bis München, dann Augsburg, Nürnberg, Leipzig und schliesslich Berlin. Es gibt viel zu sehen und zu hören – und zu lesen.

Erster Teil: Basel (Birsfelden) – München

Am liebsten weg, am liebsten hier

Spur durch Deutschland, Leipzig, 1. August 2020. Musik, wo man hinhört in Leipzig. Bis gegen Mitternacht spielt jemand in der Nikolaikirche nebenan die Orgel, und als ich erwache, sind die Strassenmusiker bereits zugange. Touristen lassen sich in Gruppen durch die Stadt führen und die friedliche Revolution von 1989 erklären. Am liebsten weg, am liebsten hier weiterlesen

Martin Luthers Tändelei mit der Nonne Eva

Spur durch Deutschland, Löbnitz – Gräfenhainichen, 3. August 2020. Wenigstens kann man der Natur wieder etwas zurückgeben, sagt eine Frau und spricht von der Seenlandschaft, die hier rings um die Dübener Heide entstanden ist. Sie steht vor der Kirche in Löbnitz, wo Luther öfters gepredigt hat. Er war in eine Löbnitzerin verknallt, hat dann aber deren Freundin geheiratet. Martin Luthers Tändelei mit der Nonne Eva weiterlesen

Anschnallen, Tisch hoch, Sitz gerade

Spur durch Deutschland, Wittenberg – Linthe, 5. August 2020. Ich verlasse Sachsen-Anhalt, laufe in einem nächsten Bundesland ein, nämlich in Brandenburg, und höre von einer Mäuseplage.

Auch wenn kein Bus durchs Dorf mehr fährt, so werden die Haare doch geschnitten

Nach Berlin muss man nicht unbedingt zu Fuss reisen, es geht auch im Flugzeug. Wäre ich nun im Flieger, so denke ich mir heute irgendwann nach Wittenberg, dann würde die Hostess jetzt etwa – allerdings ein paar tausend Meter weiter oben – ultimativ durchgeben: «Anschnallen bitte, Tisch hochklappen, Sitze gerade stellen.» So tönt das im Flugzeug, wenn die Maschine zum Landen ansetzt. Mir geht es langsam ähnlich, ich schnalle meine Gedanken an, auch wenn es noch ein paar Tage dauert, bis ich in Berlin bin. Die Landung naht, das Ende der Wanderung rückt näher. Meine Sinne richten sich allmählich darauf ein, dünkt mich, ich sehe nicht mehr so aufmerksam in der Gegend rum, mache auch weniger Fotos.

In einem der letzten Dörfer in Sachsen-Anhalt, einem, das jetzt nicht grad wie aus dem Ei gepellt daherkommt, sondern eher etwas heruntergekommen, setze ich mich ins Wartehäuschen der Busbetriebe, um auszuruhen und Wasser zu trinken. Vis-à-vis steht ein Friseurladen, bei dem nicht auf Anhieb klar ist, ob er schon ein Museum oder noch in Betrieb ist. Aber es bewegt sich der Vorhang und dann noch einmal, die Türe geht auf und ein Mann, Mitte 50, kommt heraus, tritt an den Strassenrand, schaut links, dann rechts, überquert die Strasse und ruft mir zu: «Da kommt kein Bus.»

Ich rufe zurück, ich hätte mich lediglich in den Schatten gesetzt, ich bräuchte keinen Bus. Er hat mich nicht verstanden, dreht sich mir nochmals zu und ich wiederhole meine Worte. Er wundert sich: «Ach, Sie wollen gar nicht auf den Bus?» Ich schüttle den Kopf und er sagt: «Da hätten Sie lange warten können.»

Weder Bus noch Bahn fahren hier

Es fährt nämlich grundsätzlich kein Bus mehr hier. Einst, zu DDR-Zeiten, betrieb die «VEB Kraftverkehr» die Linien. Die Gesellschaft stellte die Busse zur Verfügung und die fuhren pünktlich. Nach der Wende haben Private die Linien gekauft, einer aus Bitterfeld hat sie sich sukzessive alle unter den Nagel gerissen und seit er das Monopol hat, fahren nur noch die hochrentablen Linien. Sonst ist nichts, ausser noch die Wartehäuschen wie hier. Dort, wo die Linien gestrichen sind, fahren Rufbusse, aber die kommen gar nicht. Für die Alten sei das schlimm, sagt der Mann aus dem Friseurladen, wenn sie zum Arzt müssten, könnten sie gar nicht hin, weil die Rente nicht fürs Taxi reiche.

Er ist bereits wieder in der Strassenmitte, als ihm noch etwas in den Sinn kommt. Wir hatten noch über ein paar andere Dinge geredet, und jetzt kehrt er nochmals zurück, um klarzustellen, dass die Wende durchaus gut war. «Helmut Kohl war ein Super-Kanzler. Der wusste noch, woher sein Saumagen kommt. Aber mit Schröder hat das Elend angefangen. Der dachte nur an sich. Nur an sich. Hat Gazprom eingefädelt und solche Sachen.» Ich frage nach Merkel. Er zuckt mit den Schultern, schüttelt den Kopf und geht über die Strasse.

Frisches Brot vom fliegenden Bäcker

In einem der nächsten Dörfer fährt ein Kastenwagen an mir vorbei, hält am Trottoir, wo Leute stehen. Der Fahrer des Wagens klappt eine Seitentüre hoch, und das Gefährt ist ein Bäckerladen. Das bringt mich etwas aus dem Tritt, jedenfalls wähle ich den falschen Weg und müsste nun, um wieder auf den richtigen zu kommen, eine noch nicht sehr hoch gewachsene Wiese überqueren. Ein Mann ruft mir aus einem Garten zu und fragt, ob ich mich verlaufen habe. Er winkt mich heran, bittet mich, mich zu setzen und beschreibt mir den Weg mit allen Sehenswürdigkeiten, die mich in den nächsten Stunden erwarten werden. Dazu gehört ein Wasserturm, auf den man hinaufsteigen kann, um die ganze weite Ebene zu überschauen. Darauf werde ich verzichten, denke ich mir, denn ich habe diese Ebene nun zur Genüge gesehen. Um ehrlich zu sein: Auch die anderen Sehenswürdigkeiten, etwa die Postsäule in Niemegk, interessieren mich nicht so sehr.

Die Postmeilensäule – ein Kulturdenkmal

Der Mann war Betriebsbwirt, ist nun in Rente und macht aus seinem riesigen Garten einen Garten Eden. So sagt er dem. Sein grösstes Problem: die Trockenheit. Für ihn ist das zwar keine existentielle Sache, aber für die Bauern. Drei Jahre Trockenheit nun schon, und der Boden hat die Hälfte seiner permanenten Feuchtigkeit verloren. Das wirkt sich auf die Ernteerträge aus, sagt er.

Schlimm ist auch die Mäuseplage. Die Mäuse haben sich so vermehrt, dass sie einen grossen Teil der Ernte fressen: Das sei natürlich kein Zustand, sagt der gärtnernde Betriebswirt. Die Bauern dürfen die Mäuse nicht jagen, weil sie mit ihren Fallen auch die Feldhamster umbringen würden. Doch der Feldhamster ist vom Aussterben bedroht und deshalb geschützt. Die Mausefallen machen keinen Unterscheid zwischen schädlichen Mäusen und geschütztem Feldhamster, deshalb sind sie verboten und die Mäusepopulationen wachsen und treiben die Bauern in den Wahnsinn. Nun ist sogar die Grüne Landesministerin von Sachsen-Anhalt nach Berlin gefahren, um dort für die Freigabe der Mäusejagd zu intervenieren. Feldhamster hin oder her.

Der ganze Bodenvoller Mauslöcher

Die Frau des Betriebswirts tritt aus dem Haus und fragt, ob ich der Mann sei, der vorhin die fahrende Bäckerei fotografiert habe. Ich sage ja. Sie empfiehlt mir, nochmals ins Dorf zurückzugehen. Dort gebe es nämlich auch eine Dorfbäckerei. Die backe den besten Hefekuchen. Ich sage, dass ich dafür nun keine Zeit mehr habe, und sie holt mir im Haus ein Stück , das wirklich fein schmeckt.

Die Wege steigen wieder an in Brandenburg

Dann bedanke ich mich für die Gastfreundschaft und die vielen Tipps, ziehe weiter und stelle kurz nach Mittag fest, dass der Weg leicht ansteigt. Die erste hügelähnliche Erhebung seit langem liegt vor mir, und da zeigt mir eine Tafel auch an, dass ich nun die flache Landschaft Sachsen-Anhalts verlasse und das Bundesland Brandenburg betrete. Manchmal liegt eine tote Maus am Wegrand. Ich frage mich, warum und wie diese Maus umgekommen ist. Ob man in Brandenburg die Sache mit dem Feldhamster anders sieht.

Was mich wundert, ist die unterschiedliche Beschaffenheit der Dörfer. Die einen wirken leblos, schlecht unterhalten, baufällige Häuser überall. Im nächsten Dorf sind die Strassen frisch geteert oder gepflastert, neue Gehsteige stehen bereit, die Gärten umhagt mit neu gestrichen Zäunen oder akkurat geschnittenen Büschen. Bauernhöfe sehen aus wie in Kinderbüchern, einfach ohne Tiere – ausser vielleicht einem Hund –, es duftet würzig nach Fichtenharz und neben dem SUV steht ein Pferdeanhänger. Ich kann mir keinen Reim auf diese Unterschiede machen, aber es scheint mir, je näher ich Berlin komme, desto häufiger durchwandere ich Landliebe-Dörfer.

Und jetzt eine Nacht im Fuchsbau

Spur durch Deutschland, Linthe – Seddiner See, 6. August 2020. Allmählich führen fast alle Strassen nach Berlin, aber die Fusswege laufen quer dazu, so dass ich oft über Wiesen wandern muss bis zum Seddiner See. Dort treibt sich dem Vernehmen nach ein Wolf um. Vom See sehe ich wenig und so verziehe ich mich in den Fuchsbau.

Die Strasse der Einheit in Schlalach …

Der Wirt im Gasthof von Linthe ist wenig hilfreich mit seinen Tipps, wie man am besten zum Seddiner See wandere. Er würde der Strasse folgen, das sei der sicherste Weg. Falls er je dorthin gehe, tue er das mit dem Auto. Und seine Frau, die gestern Abend bedient hat und deren Familie den Gasthof seit 1937 in vierter Generation führt, kommt erst später. Sie wüsste vielleicht einen Fussweg.

Auf seine Frau mag ich nicht warten, kaufe mir sehr viel Wasser im «Dorfladen», der beim Autobahnkreuz steht, dreihundert Parkplätze hat und alles bietet, was auf einem Einkaufszettel vorstellbar ist. Die Sonne brennt schon am Vormittag gnadenlos. Auf Feldwegen in direkter Richtung nach Berlin zu wandern, ist unmöglich, da sie quer zu dieser Richtung verlaufen. So biege ich immer wieder ab, um einen parallel verlaufenden Feldweg zu erreichen, durch Wiesen, die vor kurzem gemäht worden sind. Doch das hat seine Tücken.

Es ist eine Moorlandschaft, die ich durchwandere und da ziehen sich immer wieder Entwässerungsgräben durch. Auch wenn die Wiesen und Felder trocken sind wie nur etwas, so steht in diesen Gräben doch braunes Wasser, eine Brühe eher, mit vielen seltsamen Lebewesen drin. Die Gräben sind gerade so breit, dass ich nicht drüber zu springen wage. Mit anderen Worten: So richtig voran komme ich nicht.

… mündet beim alten Schulhaus in die Strasse des Aufbaus

In Schlalach sitze ich an der Kreuzung, an der die Strasse der Einheit in die Strasse des Aufbaus mündet, auf einer Ruhebank vor dem alten Schulhaus, dessen Fassade pittoresk bröckelt und frage eine vorbeigehende Frau nach dem Weg Richtung Beelitz. Sie erzählt mir ganz begeistert vom Mühlebach, der einst eine Papierfabrik im Ort angetrieben habe. Dem Mühlebach folge ein Fusspfad, der mich bis nach Berlin führe. Das ist dann zwar nicht ganz so. Die Frau klagt über die missratene Spargelernte. Nicht weil die Spargeln nicht gewachsen wären, sondern weil die Polen wegen Corona nicht hätten einreisen dürfen, um sie zu ernten. Ich sage ihr, dass dieses Problem auch die Bauern in der Schweiz beschäftigt habe, aber das kann sie fast nicht glauben. So weit gehen die Polen nicht, sagt sie.

BSC-Hertha-Kleber auf der Weide: Berlin rückt näher

Auch die Spargelfelder erstrecken sich hier in unglaublich grossen Dimensionen. Der Boden ist wohl ideal – sandig, nein, bei dieser Trockenheit ist es sogar reiner, feiner Sand, der hier die Erde bedeckt. Zeitweise dünkt mich, ich wandere durch Dünen, durch eine Wüste, meine Tritte werfen kleine Sandwolken auf. In Beelitz will ich neben einem schiefen Gewerbeschuppen einen von drei dort stehenden Plastikstühlen so hinrücken, dass ich mich draufsetzen kann, doch da kommt eine kräftige Frau, gut vierzig Jahre alt, um die Ecke, stösst den Zigarettenrauch durch die Nase und sagt: «Nee, junger Mann, das ist für uns. Dort drüben können Sie sich hinsetzen.» Das mit dem ‘jungen Mann’ hat mir schon geschmeichelt, aber der Ton war scharf.

Der Weg zum Seddiner See geht bei Beelitz erst der Berliner Strasse entlang, bei der Weinbergstrasse biege ich ab, laufe über einen sandigen Weg in einen Fichtenwald und trete auf eine Lichtung, die ein Trainingsgelände für Hunde ist. Das sehe ich sofort: eine Hundeschule. Und das gefällt mir nicht, denn das grosse Tor ist offen. Aber es regt sich nichts, ich gehe weiter und erspähe dann doch einen Hund. Einen ziemlich grossen. Aber er ist kein Schäferhund oder so, eher etwas langhaarig. Daneben dann ein Mann. Ein grosser Mann. Je näher ich komme, desto grösser wirkt er. So einer muss einen grossen Hund haben, ist klar. Eine Riese ist das, der dort steht, in rotem Hemd und Shorts. Er lässt mich näherkommen, den Hund scheine ich nicht zu interessieren, aber den Mann schon. «Ein Wanderer!» ruft er, als ob es das hier nicht gäbe.

Er ist fast einen Kopf grösser als ich, hat schwarze Haare und sagt, er sei Rentner. Er weist mich an, zurückzugehen, woher ich komme, den dort durch gelange man zum Seddiner See. Dort sei die Strasse. Ich sage, dass ich als Wanderer lieber durch den Wald als der Autostrasse entlang gehe. Er gehe nicht durch den Wald, denn dort habe es einen Wolf. Kürzlich habe der eine Wildsau gerissen, ihr das Fell über die Brust herunter gezogen, und später war sie ganz weg. Dasselbe wenig später mit einem Reh. Hier, wo er dann doch mit mir durchgeht, habe früher eine LPG, eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, Schafe gezüchtet. Jetzt rechne sich das nicht mehr. Heute rechnet sich nur noch Pferdehaltung. Für die Berliner, die sich ein Pferd leisten können. Der Einfluss von Berlin auf die Gegend sei enorm, sagt er. Die Grundstückpreise steigen jedes Jahr um fünf Prozent.

Der dürre Wald macht ihm Sorgen. Gegen die Trockenheit ist Corona ein Klacks. Überall verdorrte Bäume, in drei Jahren sind alle tot. Wir gehen quer durch den Wald, übers Moos, über dürre Äste. «Hören Sie es?» fragt er. «Das Moos knistert, wenn man drauf tritt. Das ist doch nicht normal.» Er wünscht mir gute Reise und schimpft mit dem Hund, weil er den Gummiball verloren hat.

Blick auf den Seddiner See vom geschlossenen Café Seeblick aus

Der Seddiner See ist eine Enttäuschung. Nicht weil er hässlich wäre. Überhaupt nicht. Aber er ist zumindest auf dieser Seite, an der ich ihn erreiche, unzugänglich. Eine Privatgrundstück steht neben dem anderen. Beim Café «Seeblick» kann man tatsächlich durch eine Zufahrt hindurch einen Blick aufs Wasser erhaschen. Allerdings ist das Café geschlossen. Der Gasthof «Linde» ebenfalls. Im seinem Garten dreht ein Rasenmäher-Roboter auf dürrem Gras seine nicht nachvollziehbaren Kreise.

Pension zum Fuchsbau: Dezentral gelegen, aber sicher

So suche ich frühzeitig den Fuchsbau auf, eine Pension für Monteure. Das Zimmer mit Dusche und Toilette kostet keine dreissig Euro. Eine Küche steht zur Verfügung. Das Bier muss man selbst mitbringen. Man stellt es im Kühlschrank in eine Plastiktruhe mit der Zimmernummer drauf. Drei Monteure stehen an der Rezeption vor mir, und das Einchecken dauert so seine Zeit. Man kann sie sich vertreiben, indem man die Kalender an den Wänden anschaut. Lokomotiven auf dem einen, Lastwagen auf einem anderen und auf dem dritten – naja: Frauen. Die Anmeldeformalitäten schleppen sich so vor sich hin, weil die Frau hinter dem Schalter am Morgen beim Anziehen möglicherweise eines ihrer Kleidungsstücke zuhause auf der Kommode hat liegen lassen. Sie bietet jedenfalls einen An- und Einblick, der für die vor mir stehenden Männern ewig anhalten könnte und sie zu immer neuen Fragen bezüglich Zimmermiete, Schlüssel, Codes und weiterem inspiriert. Als dann einer tolldreist fragt, ob sie ihm das Zimmer nicht persönlich zeigen möge, finden das alle so lustig, dass sogar sie zu einem kurzen Lächeln ansetzt.

Der Fuchsbau liegt überhaupt nicht zentral, die nächste Gaststätte ist zu Fuss schier unerreichbar, der «Nahkauf» ist in einer Viertelstunde dagegen gut erreichbar und man fühlt sich wohl hier in den Containern. Und sicher ebenfalls: Eine hoher Zaun umgibt das Gelände, abgesichert mit Nato-Stacheldraht, und wer es betreten will, braucht einen Code. Den verrate ich natürlich nicht.

Bevor ich das Licht lösche, google ich noch die Geschichte mit dem Wolf. Tatsächlich: Hier treibt sich einer rum. Er wurde verschiedentlich gesichtet.

Eine volle Ladung Udo

Spur durch Deutschland, Seddiner See – Potsdam, 7. August 2020. Am Bahnhof von Neuseddin sitzt Fausi, der mich die nächsten und voraussichtlich letzten beiden Tage begleiten wird. Er kennt die Gegend, hat einen Plan im Kopf, doch mit Udo hat er nicht gerechnet.

Udo spricht ohne Punkt und Komma

Die Nacht im Fuchsbau war weniger erholsam als erhofft, die Wände dünn, die Schnarcher laut, im Wald drüben rumort’s die ganze Nacht, und viele Gäste hier freuen sich am satten Klang zufallender Türen. Zudem ist es heiss. Ich koche mir im Zimmer einen Kaffee, kaum wird es hell, und starre an die Decke, bis es halb neun wird. Um neun trifft Fausi ein, wir haben uns am Bahnhof verabredet, und da er Berlin und Umgebung gut kennt, freue ich mich darauf, nun einfach mit ihm zu laufen und nicht mehr ständig nach dem richtigen Weg suchen zu müssen.

Treffpunkt Bahnhof: Fausi Marti ist aus Berlin angereist

Kurzweilig ist es zudem auch, zu zweit zu wandern, mit der Gefahr allerdings, dass man die eine oder andere Abzweigung verpasst und kleine Um- und Zusatzwege in Kauf nehmen muss. Von Neuseddin weg über ein Autobahnkreuz zum Schwielowsee schaffen wir es locker, wir reden über die Wahlen, die in Basel bald anstehen, über Dinge, die die Leute hier beschäftigen, über die feinen Wege durch den lockeren Wald. Ich staune, wie die Seeufer, die Häuser und Strassen innerhalb weniger Kilometer touristischer geworden sind. Pensionen stehen an der Strasse, freie Zimmer werden angeboten, Bäckereien haben auf dem Gehsteig Cafés eingerichtet und verwegene Rentnerinnen und Rentner kurven in farbigen Kleidern und auf E-Bikes um enge Kurven. Wir wandern durch Caputh am gleichnamigen See, und ab sofort folgt nun auf dem Weg nach Berlin ein See auf den nächsten.

Das Sommerhaus von Albert Einstein

Albert Einstein hatte Geschmack, stellen wir fest, als wir auf sandigem Pfad den Templinersee erreichen. Sein Sommerhaus steht hier in üppigem Garten, mit Blick aufs Wasser. Fünf Euro kostet es, das rot bemalte Holzhaus mit weissen Fenstern, Läden und Treppengeländern  von innen anzusehen. Wir tun es nicht, allein schon aus dem Grund, weil es heute geschlossen ist.

Auf dem Templinersee herrscht viel Betrieb, Ausflugsschiffe, Sportboote, Kanus und Kajaks sind in grosser Zahl unterwegs. Auf Bahndamm und Brücke setzen wir auf die andere Seite über und folgen dem Schild «Seekrug» in der Hoffnung, dass der Krug eine Gastwirtschaft sei, aber dem ist nicht so. Der Seekrug ist die Clubhütte eines Ruderclubs, mit einer schattigen Bank immerhin.

Viel Betrieb auf dem Tempilnersee

Da trinken wir unser Wasser, erwarten keine besonderen Ereignisse und haben nicht mit Udo gerechnet. Udo ist ein Lautsprecher in Badehose und auf einem Fahrrad. Er sitzt nicht auf dem Sattel, sondern stösst das Rad neben sich her, hört – wie wir auch – einen Zug über die nahe Brücke fahren und denkt laut nach. Die DB, die Deutsche Bahn, hat man in den letzten Jahren zu Tode gespart und jetzt muss sie mit alten Zügen über alte Brücken fahren und macht einen Saulärm. Die DB hat einen neuen Chef, den … , den … , ja, wie heisst er denn schon wieder, ein ganz kurzer Name nur, ach ja, den Lutz, und der soll alles wieder herrichten, aber das geht wohl nicht mehr, weil die DB nun halt schon mal zu Tode gespart ist.

Was uns Udo damit sagen wollte, ist nicht ganz klar, aber immerhin hat er festgestellt, dass wir ihm zugehört haben, und er hat jetzt ganz gut Lust, uns aufs weitere zu unterhalten. Er ist mit Angela Merkel in die Schule gegangen, lässt das nun einfach mal so im Raum stehen und die Angela auch. Ein paar Sätze lang konzentriert er sich auf den Sauer, Angelas Gatte. Der wohnt jetzt alleene da oben am Wald und ist nicht ganz dicht im Kopf.

Udo serviert eine DDR-Geschichte nach der anderen. Erzählt zum Beispiel von den 200’000 Schweinen, die da oben am See gezüchtet wurden, was viele Arbeitsplätze geschaffen hat, die jetzt natürlich alle weg sind, weil das ja nicht mehr geht, 200’000 Schweine – und gestunken hat das, wenn sie die Gülle weggekarrt haben! Die Schweine haben sie auf Lastwagen nach Westberlin gefahren und dort geschlachtet. In der DDR gab’s dann zu wenig Fleisch, man musste anstehen in den Knellen und Sälen, und wenn du drinnen warst, war das Fleisch schon weg. Aber Bier gab’s noch und lustiger war’s auch und nun singt Udo einen Moment lang das Lied vom tollen Zusammenhalt, von den Gesprächen miteinander, von den guten, alten Zeiten. Aber besser war es nicht, nein. Er möchte das alles nicht zurück. Äpfel und Möhren, das gab’s immer, der Grundbedarf war gedeckt, aber funktioniert hat eigentlich nicht viel, alles kaputt, die Strassen völler Löcher und dort drüben standen 150 neue MAN-Laster, denen fehlte was, keen Kilometer gefahren und alle rosteten vor sich hin. Lass die Oma mal planen, det geht dann ohnehin nich. Manfred Krug, der Schauspieler, durfte dann ausreisen in den Westen, und er wollte seine Sammlung an Kutschen mitnehmen, was die Behörden ihm verboten, und da sagte Krug, er habe ein Notizbuch mit Namen von Stasi-Spitzeln. Er könnte das mal irgendwo liegenlassen. Dann durfte er die Kutschen mitnehmen.

Das Neue Palais im Park Sans Souci

So geht das weiter und schreitet voran, wir sitzen da und lachen, weil Udo wirklich ein guter Unterhalter ist und auch ein paar Müsterchen von Udo Lindenberg auf Lager hat. Aber wir wollen nun eigentlich in den Wildpark, den die Hohenzollern Mitte des 19. Jahrhunderts haben anlegen lassen, den damals modernsten Vorstellungen einer repräsentativen Wald- und Jagdlandschaft entsprechend. Später wandern wir dann tatsächlich durch diesen Wald, bis ins Zentrum, dem Wegestern, bei dem acht Strässchen aufeinander treffen und da wir nun schon mal auf historischen Pfaden wandeln, besuchen wir das gediegen klimatisierte, mächtig grosse und  für heutige Begriffe kitschig ausstaffierte Neue Palais, das Friedrich der Grosse im 18. Jahrhundert hat bauen lassen und in dem Kaiser Wilhelm II. von 1888 bis 1918 wohnte. Die ganze Parkanalage bis weit nach vorn ins Potsdamer Holländerviertel ist genial und grossartig und die Hitze bei der Ankunft in der brandenburgischen Landeshauptstadt drückend.

Krass dieser Unterschied in den letzten Tagen: Eben noch bin ich durch die stillen, einsamen und teilweise auch heruntergekommenen Dörfer Sachsens, Sachsen-Anhalts und Brandenburgs gewandert und nun stehen wir in diesen urbanen Vierteln in der Innenstadt Potsdams, die Leute sind shoppend, schwatzend unterwegs. Wir stehen mitten unter ihnen, in verschwitzten Hemden, unpassenden Schuhen und einem unförmigen Rucksack. Es ist Zeit, dass die Reise langsam an ihr Ende kommt.

«Wir sind angekommen»

Spur durch Deutschland, Potsdam – Berlin, 8. August 2020. Irgendwie kommt mir die Brücke bekannt vor. Dort tauschen in alten Filmen die BRD und die DDR Spione aus. Genau um elf betreten sie Fausi und ich, diese Glienecker Brücke, gelangen auf das Gebiet der Stadt Berlin und beschliessen ein paar Stunden später nach einer längeren Wanderung durch den Grunewald, dass wir nun am Ziel angekommen sind. Nach 58 Tagen bin ich also da.

Glieneckerbrücke, die Ost und West bis 1989 teilte

Doch, doch, es ist ein emotionaler Moment. Potsdam liegt hinter uns, die Glienecker Brücke vor uns und wenn wir sie überschritten haben, dann begrüsst uns ein gelbes Ortsschild, wie ich sie nun wohl zu Hunderten gesehen habe in den letzten Wochen, gelb und am rechten Strassenrand stehend – aber diesmal steht «Berlin» drauf. Wir haben die Grenze zwischen Brandenburg und Berlin überschritten, die Grenze, die einst zwei Machtblöcke trennte, zwei Welten, die damals in drei Jahrzehnten grundverschieden geworden sind, getrennt durch eine schier unüberwindbare Mauer, und die sich einander nun wieder annähern. Autos fahren hin und her, Radfahrer machen halt auf diesem Brückenkopf, knipsen ein Foto, und wir setzen uns hin und machen eine kurze Pause.

Oldsmobile für den Austausch von Spionen zwischen Ost und West

Dem Mauerweg entlang spazieren wir durch Wannsee, hinunter zur Havel, durch den Wald, der am Vormittag weitgehend menschenleer da liegt, weil die Berlinerinnen und Berliner wohl noch am Einkaufen sind. In einem Waldrestaurant dann ein erster Halt – wir wollen es heute ganz locker nehmen. Ein Fidler geigt «If I were a Rich Man …», das Akkordeon begleitet ihn, wir peilen die nächste Brücke an, zwischen Kleinem und Grossem Wannsee, marschieren an Villen vorbei, die geheimnisvoll hinter verschlossenen Toren und hohen Zäunen in prunkvollen Pärken liegen. Mit meinem Rucksack komme ich mir etwas unpassend vor in dieser Gegend und später gesellt sich Enttäusschung dazu, weil sich unten am Ufer der Havel keine nächste Gastwirtschaft zeigt. Nur private Yacht- und andere Clubs, ein grosses Schwimmbad, später kleine Sand- und Wiesenstrände.

Zu morgendlicher Stunde im Wirtshaus Moorlake am Wannsee

Wir wagen es vorerst noch nicht, uns zuzugestehen, dass uns gar nicht mehr so sehr ums Wandern ist. Wir möchten uns jetzt dann einfach hinsetzen, ein Bier trinken oder einen Eiskaffe und nicht den ganzen Grunewald durchqueren. Die Beine werden etwas schwer, aber wir ziehen es bei doch üppiger Hitze knallhart durch. So sind wir nun mal.

Um 16 Uhr sitze ich mit Fausi an einem Tischchen im «Waldmeister» bei der S-Bahn-Station Grunewald, das Glas vor mir, das Telefon in der Hand und berichte Moni zuhause: «Wir sind angekommen.»

Schon wieder Wirtshaus, diesmal Waldmeister, wo der Fussmarsch zu Ende geht

Ja, ein besonderer Moment für Moni und mich, es war eine lange Zeit und wir freuen uns aufs Wiedersehen. Am 12. Juni bin ich in Birsfelden aufgebrochen, etwa zwei oder drei Mal hatte ich das Gefühl, ich müsse das Vorhaben abbrechen, zwei Mal wegen den Füssen, einmal wegen Zeckenbiss, der sich so ausweitete, dass ich in Nürnburg den Ärztlichen Bereitschaftsdienst aufsuchte. Ich habe hier nichts darüber geschrieben, einfach so, aber es war für mich eindrücklich, wie unbürokratisch das ganze Prozedere ablief, wie kompetent die beiden Ärzte den Schaden angeschaut und beurteilt haben und dass das alles kostenlos war. Das einzige Problem bei der Anmeldung war die Verwirrung, welche die Computer stifteten. Das Herkunftsland «Schweiz» kannten sie nicht und die beiden Damen bei der Aufnahme zerbrachen sich den Kopf, wie denn das gehen könne, dass die Schweiz angeblich in Europa liege, aber nicht in der EU sei.

Sonst habe ich weder etwas Beängstigendes erlebt, noch ist mir etwas Gröberes zugestossen, verloren habe ich nichts, gestohlen wurde mir ebenso wenig. Ich habe lustige und weniger lustige, freundliche und unfreundliche Leute getroffen wie überall auf der Welt, aber schon vor allem angenehme. Die Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern dünken mich noch recht gross. Nicht alle spüren sie in gleichem Masse: Wer zum soliden Mittelstand gehört und darüber hinaus, scheint sich im ehemaligen Osten wohl zu fühlen, wer sich nach der Decke strecken muss, erinnert sich an viel Positives aus der guten, alten Zeit.

Die Reise war in verschiedener Weise geprägt durch die Corona-Pandemie. Leute, die wegen der wirtschaftlichen Einbussen klagten, traf ich immer wieder. Für viele bedeuten sie den wirtschaftlichen Ruin, leiden müssen fast alle darunter. Das Maskentragen im öffentlichen Verkehr oder in den Läden gehört zum Alltag und wird klaglos befolgt. Viele Sehenswürdigkeiten, die man normalerweise besuchen könnte, sind geschlossen. Andererseits ist der Andrang an den zugänglichen Orten sehr viel kleiner als in anderen Jahren. So ist es beispielsweise in normalen Zeiten kaum möglich, als zeitweilig einziger Gast durch Goethes Gartenhaus in Weimar zu gehen.

Und mit der Metro ins bunte Berliner Treiben

Kaum jemals habe ich es erlebt, dass eine Anfrage für eine Unterkunft abschlägig beantwortet wurde, weil die Pension oder das Gasthaus ausgebucht gewesen wäre. Ich fand fast immer einen Platz und wenn die Suche schwierig wurde, hat sich Moni zuhause an den Computer gesetzt und mir aus der Ferne etwas gefunden. Herzlichen Dank, meine Liebe, und auch Dank für die grundsätzliche Unterstützung für die Idee, von Basel nach Berlin zu wandern. Eine Idee, die nicht allen Leuten auf Anhieb einleuchtet.

Und wenn ich hier zum Abschluss meines Reiseberichts schon am Danken bin, möchte ich auch Richard, Lix, Fausi und Hugo danken, die mich ein Stück des Weges begleitet haben, was jeweils eine willkommene Abwechslung war.

Durstig, aber sonst zufrieden, mit Fausi (rechts)

Und dann auch das: Es haben mehr Leute diesen Blog gelesen und angeschaut, als ich erwartet habe, und ihr Gefallen bekundet, ihn auf Facebook empfohlen und mir tolle Rückmeldungen geschickt. Herzlichen Dank auch dafür! Und wer die Reise nun fortsetzen möchte, zum Beispiel nach Moskau – dem oder der empfehle ich Wolfgang Büscher Reiseroman «Berlin – Moskau, Eine Reise zu Fuss». Ist natürlich viel schwieriger zu bewerkstelligen, entsprechend abenteuerlicher und heroischer das Geschehen.

Nun ist auch mal Schluss mit diesem Bericht. Mit Fausi bin ich das letzte Stück nach Berlin spaziert, wir haben zusammen mit Sylvia Znacht gegessen, werden morgen das eine und andere anschauen. Dann besuche ich noch liebe Bekannte in Berlin, schaue mir später ein Weilchen dies und das an und steige dann irgendwann in den kommenden Tagen in den Zug.

Hier nochmals die Karte mit der Route meiner Wanderung. Man kann alle Orte und Strecken anklicken und kommt dann zum Link, der zum entsprechenden Bericht führt. Danke fürs Lesen und bis ein ander Mal.