Spur durch Deutschland, Pleinfeld – Nürnberg, 12. Juli 2020. Ein Hund reisst mich aus Gedanken an einen alten Film, und ein Ehepaar auf Sonntagsspaziergang erzählt vom Weihnachtsschmuck aus Roth. Aber vielleicht kommt in diesem Jahr das Christkindl nicht.
Die Gasthöfe und Pensionen handhaben die Corona-Regeln beim Frühstück sehr unterschiedlich. An einigen Orten füllt man am Abend auf einem Zettel aus, was man sich wünscht (Kaffee, Ei, Käse, Müesli …) und findet es am Morgen an seinem Tisch. Andernorts wird spontan bedient und in Pleinfeld steht ein Buffet bereit wie in den guten alten Zeiten. Die Leute sind ganz entzückt, man sieht es ihren Augen hinter der Maske an. Erst als ein Halbwüchsiger das Buttermesser ausgiebig ableckt, erstarren alle und schauen fassungslos zum Buffet. Die Wirtin eilt herbei und legt ein neues Messer neben die Butter.
Auf dem Weg Richtung Nürnberg wandere ich vorerst ein gutes Stück auf einer sehr verkehrsarmen Landstrasse. Ich versuche auf dem Schotter neben dem Teerbelag zu gehen, weil das die Füsse und Gelenke schont. Das Bild dieser sich dahinziehenden Landstrasse fasziniert mich und weckt Erinnerungen an den Wim Wenders-Film «Im Lauf der Zeit». Keine Ahnung mehr, was die Handlung des Films ist. Aber: Ein Mann fährt dauernd über Landstrassen. Er tuckert in seinem Kleinlaster von Dorf zu Dorf, um in Landkinos Filmprojektoren zu reparieren. Es gibt auch in Frankreich Landstrassen, in Italien, aber so unnütze Landstrassen, auf denen selten ein Auto verkehrt, das ist für mich deutsch. Oder Wim Wenders. Das ist: Im Lauf der Zeit. Irgendwann fährt der Filmprojektor-Servicemann mit einem zweiten Mann über Landstrassen. Dieser hatte sich mit einem Bus in einen Fluss ertränken wollen, aber viel mehr zum Inhalt des Films fällt mir nicht ein.
Wenn ich dann wieder zuhause bin, will ich ihn ansehen. Möglicherweise ist es eine richtige 68-er Schnulze, aber wenn er im Stadtkino liefe, würden gewiss alle den Saal verlassen und sagen: «Ein Superfilm.»
Mit Wim Wenders im Kopf wandere ich über Teer, Wald- und Feldwege, laufe durch die Zeit und Jahre und Erinnerungen, an der mäandernden Rezat vorbei, die ein wichtiger, wenn auch kleiner Fluss hier im Frankenland ist, wie ich überall lese. Sie treibt oder trieb Mühlen an und gehört zusammen mit ihren Kanälen zu den Zu- und Abflüssen, die die Pegel von Brombachsee, Donau und Donau-Main-Rheinkanal ausgleichen. Wieder spaziere ich durch Dörfer mit ungewohnten Namen: Auf Niedermauk folgt Petersgmünd, dann Georgensgmünd. Sie wirken alle leer. Vielleicht sind die Leute auf Sonntagsausflug, vielleicht schlafen sie aus, aber so lange kann man gar nicht schlafen. Pferde weiden, Freilaufhühner rennen durch Gehege.
Vor Bernlohe reisst mich ein schwarzer Hund, gewiss ein Bastard, ein ungezogener jedenfalls, aus allem, was mir so durch den Kopf geht. Das Tier ist nass und springt an meinem Rucksack hoch, schüttelt sein Fell, dass es grauslig spritzt. Ein zweiter macht’s ihm nach, ein kleiner Köter. Vor ihm hätte ich keine Angst, aber dieses schwarze Monster! Rechts öffnet sich der Blick auf den Petersgmünder Baggerweiher, eine braune Brühe, scheint mir. Ein Paar sitzt am Ufer. Der Mann hat sein graues Haar zu einem langen Zopf geflochten, sonnt seinen nackten Oberkörper, neben ihm seine Freundin, Frau, Braut oder was auch immer, die den Oberteil ihres zeltartigen schwarzen Kleids seitlich über Schultern und Arme hat fallen lassen, um der Sonne ihre weisse Haut zu schenken, und den Busen verhüllt ein BH in Camouflage-Farben. Ich rufe ein fröhliches Wort, will gute Laune schaffen, und der Mann knurrt: «Jimmy». Und nochmals: «Jimmy!» Aber Jimmy springt weiterhin am Rucksack empor. Dann steht Herrchen auf, packt Jimmy am Halsband und Ruhe ist.
Dem Baggersee entlang treffe ich weitere Typen. Nackte Oberkörper, Camouflage auch hier, auf den Hosen, auf den Leibchen, wenn einer doch mal eines trägt, sie haben ihre Offroader mitten auf dem Weg parkiert, sitzen in Feldstühlen oder stehen, einige haben Angelruten montiert, alle lassen lässig Bierflaschen zwischen Fingern baumeln. Und sie schauen mich an. Grüssen wäre ein Zeichen von Schwäche, wer es trotzdem tut, hat verloren.
Am Ende des Sees, wo er heller wirkt, weil der Wald sich zu losem Gehölz gelichtet hat, sitzen hinter einem Weizenfeld junge Frauen. Es wirkt, als hätten sie sich versteckt vor den bösen Buben im Wald, wie es einst die Nymphen vor dem lüsternen Pan taten.
Vor dem Dorf Roth, das auf einer Tafel als sehenswerte Kreisstadt mit Leonischen Werken angepriesen wird, treffe ich ein Rentnerpaar auf Sonntagsspaziergang, das die Sehenswürdigkeit anders beschreibt: «Roth ist ein Kaff mit einem Schloss.» Die beiden gehen in diesem Jahr nicht in den Urlaub. Wegen Corona natürlich. Sie selbst sind der festen Ansicht, dass es dieses Virus nicht gibt. Wahrscheinlich nicht. Das sei eher eine politische Sache. Ziemlich sicher. Aber ihre Freunde glauben ans Virus und wollen nicht weg. Deshalb bleiben sie auch hier.
In der Schweiz waren sie auch schon fast. In Waldshut, weil dort ein Schwager lebte, der bei den Baden-Werken gearbeitet hat. Doch er ist beim Klettern in der Wutach-Schlucht abgestürzt. Jetzt gehen sie nicht mehr hin.
Ich frage nach den Leonischen Werken. Was genau das sei, wissen sie nicht. Vielleicht Kabelwerke, Elektrodrähte oder so. Das wäre dann aber eher Nürnberg. In Roth gibt es eine Fabrik für Weihnachtsschmuck, die anfangs November ihre Läden öffnet. Von der Christbaumkugel bis zu Krippen kann man alles kaufen. Aber mit dem Christkindlmarkt in Nürnberg hat das nichts zu tun. Der ist älter, sagt die Frau. Fast so alt wie das Christkind. Sie lacht. Ob er im Corona-Jahr stattfindet, ist noch nicht sicher. Vielleicht kommt auch das Christkind nicht. Sie spazieren weiter, ich setze mich auf eine Bank und google, was so über Roth zu finden ist. Das mit dem Christbaumschmuck, sehe ich auf Wikipedia, hat eine lange Tradition: «Auch im Zweiten Weltkrieg prosperierte die Stadt wegen der erhöhten Nachfrage nach Christbaumschmuck, der aus Propagandagründen sogar in den Kessel von Stalingrad eingeflogen wurde.»
Roth erreiche ich auf einem Weg, der direkt zum Bahnhof führt. Ein Zug rollt ein, er fährt nach Nürnberg. Mir fällt ein, dass Sonntag ist und man sich etwas gönnen darf, dann dünkt mich, irgendwo gelesen zu haben, dass sich Wanderburschen schon in alten Zeiten dann und wann mal auf einen Wagen setzten, um sich die eine oder andere Meile mittragen zu lassen – und ich steige ein und lasse mich die letzten Kilometer in die Stadt kutschieren.