Spur durch Deutschland, Höchstädt – Donauwörth, 8. Juli 2020. Bayern will an der oberen Donau Rückhaltebecken für Hochwasser bauen. Da sind die Leute dagegen. Zudem werden hier Helikopter, Geschirrspüler und Traktoren gebaut. Und ein Mann fotografiert schwarz-weiss.
Wir werden nochmals gediegen bewirtet, sitzen über dem Wasser im schiefsten Hotel und plaudern, was man am Morgen halt so plaudert. Hugo fährt wohl Richtung Bamberg, ich setze meine Wanderung in Höchstädt fort, werde im Zug dorthin fahren, wo Lix und ich am Montag zum Seitensprung nach Ulm angesetzt haben.
Natürlich achte ich erst mal auf meine Füsse, registriere jeden Stein unter der Sohle, spüre aber keine besorgniserregenden Druckstellen. Will sie auch nicht spüren. Der Weg führt unspektakulär durch Wohnquartiere, über Felder, durch Wälder und Kieswege. Sonderheim heisst ein Dorf, dann Blindheim. Zwischen den Dörfern grosse Weiher, die nicht zum Bade laden, vielleicht gefällt’s den Fischen dort. Irgendwo sehe ich das Schild eines Donaufischers, der in diesen Teichen wahrscheinlich seine Angeln und Netze auswerfen wird.
Am Ortsschild von Gremheim hängt eines dieser Transparente, die wohlerzogene deutsche Bürgerinnen und Bürger ersinnen, um ihren Unmut und ihren Protest auszudrücken. Man erkennt das jeweils sofort, an der Sorgfalt zum Beispiel, mit der die Wut gegen irgendwas in reimende oder zumindest ausdrucksstarke Wortbilder verpackt wird. In Gremheim heisst das: «Flutpolter rechts und links … schon langsam stinkt’s». Mir sagt das auf Anhieb gar nichts, ausser dass beim Dichten möglicherweise etwas schiefgelaufen ist.
Auf der schattigen Bank neben der Kirche erfahre ich mehr. Ein Mann, Sparkassenangestellter, erkundigt sich über mein Wohin und Woher und hält fest, dass ich Schwaben verlassen habe und in Bayern angekommen sei. Woran man das merke, frage ich. Am Dialekt natürlich. Dann schaut er verschmitzt dorthin, wo die Schwaben wohnen: «Dort lebt die sparsame, schwäbische Hausfrau.» Mit anderen Worten: Die Schwaben sind geizig, die Bayern nicht.
Ich frage nach dem «Flutpolter» auf dem Transparent am Dorfeingang. Und das ist so: Es gibt etwa acht Stauwehre an der Donau von Ulm bis Passau (vielleicht sind es mehr. oder weniger. hab nicht gut aufgepasst). Aber trotzdem überschwemmt der Fluss in Extremsituationen Städte und Dörfer. Das ist der Nachteil, wenn man am Fluss wohnt, sagt der Mann. Die Mücken auch, die sind auch ein Nachteil. Und jetzt will Bayern ein bis drei riesige Rückhaltebecken im Donauer Ried bauen. Man nennt sie auch «Polder». (Auf Transparenten sogar «Polter».) Fünf Meter hoch soll das Wasser dort stehen. Bis das nur wieder abgelaufen ist nach der Extremsituation. Und da sind die Leute dagegen. Die Bauern vor allem wollen das nicht. Sie glauben dem Staat nicht, dass er Entschädigungen zahlen wird. Im Jahr 2020 hätten die Becken gebaut sein wollen. Aber es ist noch nichts geschehen.
Es folgt eine Lektion Wirtschaftskunde. In Donauwürth, wo ich hinwandern will, baut Eurocopter Helikopter. Eurocopter ist eine Tochtergesellschaft von Airbus in Toulouse. Spanier sind auch an der Firma beteiligt. Über 300 Helikopter lassen die jedes Jahr steigen und bauen erst noch Bestandteile für Passagiermaschinen. Drüben in Dillingen fabriziert Bosch-Siemens Geschirrspüler für ganz Europa und in Lauingen macht Deutz Traktoren, früher Mähdrescher und Heuwender. Jetzt nur noch Traktoren, seit Italiener die Firma übernommen haben. Als dann Corona kam, lieferten die Italiener eine Weile keine Teile mehr und in Lauingen mussten sie kürzer treten. Mich dünkt, jetzt lächelt der Mann ein bisschen. So ein bisschen hämisch. Corona ist auch schuld, dass man keine Boote sieht auf der Donau. Die Leute gehen nicht mehr raus, sind weniger gesellig und trinken nicht mehr viel.
Ab Gremheim, wo ich das alles erfahren habe, liegt eine kilometerlange Strecke auf einem Damm neben der Donau vor mir. Gut zu wandern, aber keine Dörfer, keine Menschen, keine Ruhebank. Boote oder Bötchen sehe ich wirklich keine (erst ganz am Schluss ein paar vertäute). Mücken hat’s, Bäume hat’s, grosse Bäume, viele Bäume, rechts fliesst träge die Donau, drüben das Ried, das zum Rückhaltebecken werden soll.
Dann eine Ruhebank. Ich setze mich drauf, obwohl ausgerechnet hier ein Mann mit einem Fotoapparat in der Nähe steht. Seine Hose reicht bis Mitte Wade, allerdings hat er sie hochgezogen bis über den Bauchnabel, über den Kopf hat er einen Hut gestülpt, der aussieht wie ein verbeulter Melkkessel. Er zittert sehr stark, der Fotoapparat wackelt. Ausser wenn er sich vornüberbeugt und auslösen will. Dann erstarrt er für eine Weile. Mit der Zunge netzt er ständig die Lippen. Ich denke, dass er wohl an Parkinson leidet. Er kommt auch zur Bank und ich sehe, dass seine Minolta ziemlich alt sein muss.
Er fotografiert analog. Heute Schmetterlinge. Er entwickelt die Bilder selbst und hat eine spezielle Technik entwickelt. Später koloriert er die Schwarz-Weiss-Bilder. Diese Tätigkeit ist einerseits ein Hobby, andererseits trainiert er damit beide Hirnhälften, um seinen Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen. Da fällt mir ein, dass Gitarre-Spielen das Zusammenwirken der beiden Hirnhälften fördere. Ich hätte mal sowas gelesen, sage ich. Er nickt zwar, schaut mich aber so ratlos an, dass ich noch einen draufgebe: Man weiss, dass Albert Einstein zur Geige griff, wenn er vor einer schier unlösbaren Aufgabe stand. Nach dem Geigenspiel habe er die Aufgabe oft lösen können, sage ich. Als man nach seinem Tod sein Hirn obduziert habe, entdeckte man, dass er eine auffallend dicke Verbindung zwischen den Hirnhälften entwickelt habe. Der Fotograf schaut mich noch ratloser an und fragt, wieso ich das wisse. «Ein Freund, der sich intensiv mit Einstein beschäftigte, hat mir das vor vier Tagen erzählt», sage ich. Wir reden noch ein bisschen über Schwarz-Weiss-Fotografie und er erklärt mir, dass er nicht naturalistisch koloriere. Sondern nach Fantasie. Was er ausser Schmetterlingen sonst noch fotografiere, frage ich. – Alles. – Alles? – Ja, alles. Auch Akte. – Auch schwarzweiss? frage ich. – Auch schwarzweiss, sagt er.
Auf der Donau sehe ich weiterhin keine Boote, ausser ein paar, die an einem privaten Steg der Helikopter-Firma angebunden aber schon lange nicht mehr gebraucht worden sind. Vor einem Stauwehr warnt eine Tafel allfällige Schiffsführer trotzdem vor den drohenden Gefahren, und ermahnt die Bootsfahrer, frühzeitig ans rechte Ufer zu wechseln. Dann stehe ich plötzlich in Donauwörth und bin hell entzückt über diesen malerischen Ort, der zum Teil auf einer Insel des Flusses Wörnitz liegt, zum Teil dahinter. Die Leute sitzen auf den Plätzen, trinken, lachen, bis es zu regnen beginnt und auf der Reichsstrasse steht neben dem Backhaus Pfisterer das Radiogeschäft Natterer, dann kommt die Buchhandlung Rupprecht, der Bäcker Ihle und schliesslich die Metzgerei Schlecht.