Spur durch Deutschland, Singen – Ludwigshafen, 18. Juni 2020. Blitz und Donner, Starkregen und Strassenbäche treiben die Ludwigshafener und -hafenerinnen kurz vor halb acht in ihre Häuser, wenn sie nicht grad im Restaurant sitzen. Der Bodensee brodelt. Das abrupte Ende eines prächtigen Frühsommertags.
Genau um neun reisst mich das Telefon aus dem Schlaf. Aus dem Tiefschlaf. Ich hatte von unangenehmen Menschen geträumt. Schon deshalb ist es gut, dass mich MonikaMaria weckt und einen guten Tag wünscht. Ich dusche, eile in den Frühstücksraum des Gasthofs Jägerhaus. Aber der ist leer, die Gäste sind gegangen. Das Frühstücksbuffet bereits geräumt und zwar ratzefatz. Die Gäste haben Unmengen von Resten zurückgelassen, aber es ist nicht meine Art, all die Brötchen und Schinken einzusammeln und sie an einem freien Tisch zu essen. Ich lege die Maske um und besorge mir zumindest einen Kaffee aus der Maschine. Jetzt taucht Personal auf und zwar ein entsetzter Mann, der «Corona» ruft und auf einen Zettel oberhalb der Kaffeemaschine deutet, auf dem zu lesen ist, dass Gäste an diesem Gerät nichts zu suchen haben.
Er weist mir einen Tisch zu und sagt, er werde mir ein Frühstück bringen. Buffet gebe es wegen Corona nicht. Er und eine Kellnerin stellen mir dann Teller um Teller hin mit Ei und Käse, Schinken, Salami, Yoghurt und der Herrlichkeiten mehr. Gleichzeitig beginnen sie, die anderen Tische abzuräumen und schauen mit einer Mischung aus Entsetzen und Abscheu auf die unangetasteten Essensreste, die sie in der Küche in den Mülleimer kippen. Gern würde ich mich ein bisschen anbiedern und über Food-Waste schimpfen.
Doch ich bin der rumänischen Sprache nicht mächtig. Still fange ich an, die Brötchen aufzuschneiden und mir Sandwiches für die Wanderung zu streichen. Als der Kellner das sieht, strahlt er sehr und bringt mir Alufolie, um die Wegzehrung einzupacken.
Der Tag ist prächtig. Sonnig und kühl. Wanderwetter. In den Pfützen auf den Feldwegen spiegeln sich die Wolken im blauen Himmel.
Ein Mann, der mit seiner am Knie operierten Frau Gehversuche macht, erklärt mir die Vulkanlandschaft. Vom Hohentwiel war schon gestern die Rede, aber man sieht nun auch den Hohenkrähen und weitere, deren Namen ich leider schon vergessen habe. Die Vulkane sind Millionen Jahre alt und das Gebiet hier heisst Hegau, sagt der Mann. Er und seine Frau waren auch schon wandern und haben den Jakobsweg gemacht, aber nur den Schweizer Teil bis Rolle.
Später treffe ich einen Hündeler und drei Hündelerinnen, die Kampfhunde mit sich führen. Der Mann erkennt an meinem Akzent, dass ich Basler bin, weil er zwanzig Jahre bei Georg Fischer in Schaffhausen gearbeitet hat. Er war letztes Jahr am Tattoo in Basel, er liebt Militärmusik, besonders vor einer imposanten Kulisse wie der Kaserne. Dieses Jahr findet Tattoo in der Halle statt, wo Roger Federer spielt, aber er geht trotzdem, weil die Frau die Tickets schon gekauft hat. Im Dorfladen in Friedlingen müsse ich unbedingt einkaufen, weil es viele lokale Produkte zu kaufen gebe. Wir stehen längst vor diesem Laden, und ich geh dann rein und kaufe ein Apfelschorle. Der Mann an der Kasse sagt: «Nicht wirklich ein Grosseinkauf.»
Wanderwetter wie gesagt. Über einen Hügel steige ich nach Steisslingen, von dort über den nächsten nach Wahlwiese, lege mich zwischendurch unter einen Apfelbaum, setze mein Frühstück fort,
schaue einem gelben Postwagen zu, der weit entfernt vor einem Bauernhaus hält, wahrscheinlich weil der Pöstler ein Paket bringt und ich frage mich, was wohl drin sein könnte. Darob schlafe ich kurz ein und erwache wegen Ameisen, die mich kneifen. So schön kann das Leben sein.
Vor Wahlwiese erblicke ich den Bodensee. Was für ein Bild! Die Sonne brennt nun schon etwas stärker in meinem Nacken auf den letzten Kilometern durch die von Obstplantagen, Getreide- und Erdbeerfeldern geprägte Ebene. Am See beginnt die Camping-Welt, die Leute tragen Shorts und Trägerleibchen.
In der Traube zu Ludwigshafen begrüsst mich ein Wirt mit mächtiger Oberweite, sein Hemd erinnert an ein Zelt. Während ich im Zimmer 11 die Kleider auswasche, dusche und Sandalen überziehe, wird es draussen sehr schnell dunkel. Ich setze mich ins Gartenrestaurant – ein Kiesplatz, auf dem vier Tische stehen, zwei davon dicht an dicht bestückt mit Männern und Frauen, die Bier aus grossen Gläsern trinken und sich alle kennen. Sie sprechen kurze Sätze, nicken, sprechen einen weiteren Satz und trinken einen Schluck. Ich klappe meinen Laptop auf, will kurz mit Enkeln, Sohn und Schwiegertochter plaudern, da klatscht ein Riesentropfen auf den Bildschirm und innert Kürze prasseln Sturzbäche über Ludwigshafen los.
Dann sitzen alle dicht auf dicht in der Gaststube, wo es nichts zu essen gibt. Nur zu trinken. Drei, die Karten spielen, schweigen konzentriert. Die anderen bearbeiten diverse Themen, bunt durcheinander. Man hätte gern wieder eine Gesangsprobe durchgeführt, aber aus irgendeinem Grund ist es nicht erlaubt. Das bringt die Leute erst zum Lachen und führt zu Erörterungen über die Sprungkraft von Viren bei lang anhaltenden Gesangsproben. Das muss man ernst nehmen, schreit eine kräftige Frau durch den Raum. Eine andere ruft zurück – laut, damit man sie verstehen kann: Man könnte sie auf dem Kirchplatz durchführen, aber bei unsicherem Wetter ist das auch nicht möglich. Ein Mann sagt: «Jetzt sind die Tröpfchen aber weit geflogen.» Jemand bringt Johannisbeerkuchen ins Spiel. Die seien immer sauer. Die Frau an meinem Tisch sagt: «Ä Pfund Zucker druff und denn isch guet.» Die Leute sind sehr besorgt, weil ich gern was essen wollte. Aber man kann nicht raus. Als der Regen nachlässt, empfehlen sie mir den Griechen. Doch der mag nicht mehr kochen. Der heftige Regenwind hat sein Gartenzelt zerzaust. Im «Zinnkrug» steht das Wasser in der Gaststube auch recht hoch, die Wirtin mag keine neuen Gäste mehr.
Im «Blauen Affen» riecht es nach Patchouli und alle Tische sind besetzt. Der Kellner sagt, ich könne an der Theke essen.