Spur durch Deutschland, Wittenberg – Linthe, 5. August 2020. Ich verlasse Sachsen-Anhalt, laufe in einem nächsten Bundesland ein, nämlich in Brandenburg, und höre von einer Mäuseplage.
Nach Berlin muss man nicht unbedingt zu Fuss reisen, es geht auch im Flugzeug. Wäre ich nun im Flieger, so denke ich mir heute irgendwann nach Wittenberg, dann würde die Hostess jetzt etwa – allerdings ein paar tausend Meter weiter oben – ultimativ durchgeben: «Anschnallen bitte, Tisch hochklappen, Sitze gerade stellen.» So tönt das im Flugzeug, wenn die Maschine zum Landen ansetzt. Mir geht es langsam ähnlich, ich schnalle meine Gedanken an, auch wenn es noch ein paar Tage dauert, bis ich in Berlin bin. Die Landung naht, das Ende der Wanderung rückt näher. Meine Sinne richten sich allmählich darauf ein, dünkt mich, ich sehe nicht mehr so aufmerksam in der Gegend rum, mache auch weniger Fotos.
In einem der letzten Dörfer in Sachsen-Anhalt, einem, das jetzt nicht grad wie aus dem Ei gepellt daherkommt, sondern eher etwas heruntergekommen, setze ich mich ins Wartehäuschen der Busbetriebe, um auszuruhen und Wasser zu trinken. Vis-à-vis steht ein Friseurladen, bei dem nicht auf Anhieb klar ist, ob er schon ein Museum oder noch in Betrieb ist. Aber es bewegt sich der Vorhang und dann noch einmal, die Türe geht auf und ein Mann, Mitte 50, kommt heraus, tritt an den Strassenrand, schaut links, dann rechts, überquert die Strasse und ruft mir zu: «Da kommt kein Bus.»
Ich rufe zurück, ich hätte mich lediglich in den Schatten gesetzt, ich bräuchte keinen Bus. Er hat mich nicht verstanden, dreht sich mir nochmals zu und ich wiederhole meine Worte. Er wundert sich: «Ach, Sie wollen gar nicht auf den Bus?» Ich schüttle den Kopf und er sagt: «Da hätten Sie lange warten können.»
Es fährt nämlich grundsätzlich kein Bus mehr hier. Einst, zu DDR-Zeiten, betrieb die «VEB Kraftverkehr» die Linien. Die Gesellschaft stellte die Busse zur Verfügung und die fuhren pünktlich. Nach der Wende haben Private die Linien gekauft, einer aus Bitterfeld hat sie sich sukzessive alle unter den Nagel gerissen und seit er das Monopol hat, fahren nur noch die hochrentablen Linien. Sonst ist nichts, ausser noch die Wartehäuschen wie hier. Dort, wo die Linien gestrichen sind, fahren Rufbusse, aber die kommen gar nicht. Für die Alten sei das schlimm, sagt der Mann aus dem Friseurladen, wenn sie zum Arzt müssten, könnten sie gar nicht hin, weil die Rente nicht fürs Taxi reiche.
Er ist bereits wieder in der Strassenmitte, als ihm noch etwas in den Sinn kommt. Wir hatten noch über ein paar andere Dinge geredet, und jetzt kehrt er nochmals zurück, um klarzustellen, dass die Wende durchaus gut war. «Helmut Kohl war ein Super-Kanzler. Der wusste noch, woher sein Saumagen kommt. Aber mit Schröder hat das Elend angefangen. Der dachte nur an sich. Nur an sich. Hat Gazprom eingefädelt und solche Sachen.» Ich frage nach Merkel. Er zuckt mit den Schultern, schüttelt den Kopf und geht über die Strasse.
In einem der nächsten Dörfer fährt ein Kastenwagen an mir vorbei, hält am Trottoir, wo Leute stehen. Der Fahrer des Wagens klappt eine Seitentüre hoch, und das Gefährt ist ein Bäckerladen. Das bringt mich etwas aus dem Tritt, jedenfalls wähle ich den falschen Weg und müsste nun, um wieder auf den richtigen zu kommen, eine noch nicht sehr hoch gewachsene Wiese überqueren. Ein Mann ruft mir aus einem Garten zu und fragt, ob ich mich verlaufen habe. Er winkt mich heran, bittet mich, mich zu setzen und beschreibt mir den Weg mit allen Sehenswürdigkeiten, die mich in den nächsten Stunden erwarten werden. Dazu gehört ein Wasserturm, auf den man hinaufsteigen kann, um die ganze weite Ebene zu überschauen. Darauf werde ich verzichten, denke ich mir, denn ich habe diese Ebene nun zur Genüge gesehen. Um ehrlich zu sein: Auch die anderen Sehenswürdigkeiten, etwa die Postsäule in Niemegk, interessieren mich nicht so sehr.
Der Mann war Betriebsbwirt, ist nun in Rente und macht aus seinem riesigen Garten einen Garten Eden. So sagt er dem. Sein grösstes Problem: die Trockenheit. Für ihn ist das zwar keine existentielle Sache, aber für die Bauern. Drei Jahre Trockenheit nun schon, und der Boden hat die Hälfte seiner permanenten Feuchtigkeit verloren. Das wirkt sich auf die Ernteerträge aus, sagt er.
Schlimm ist auch die Mäuseplage. Die Mäuse haben sich so vermehrt, dass sie einen grossen Teil der Ernte fressen: Das sei natürlich kein Zustand, sagt der gärtnernde Betriebswirt. Die Bauern dürfen die Mäuse nicht jagen, weil sie mit ihren Fallen auch die Feldhamster umbringen würden. Doch der Feldhamster ist vom Aussterben bedroht und deshalb geschützt. Die Mausefallen machen keinen Unterscheid zwischen schädlichen Mäusen und geschütztem Feldhamster, deshalb sind sie verboten und die Mäusepopulationen wachsen und treiben die Bauern in den Wahnsinn. Nun ist sogar die Grüne Landesministerin von Sachsen-Anhalt nach Berlin gefahren, um dort für die Freigabe der Mäusejagd zu intervenieren. Feldhamster hin oder her.
Die Frau des Betriebswirts tritt aus dem Haus und fragt, ob ich der Mann sei, der vorhin die fahrende Bäckerei fotografiert habe. Ich sage ja. Sie empfiehlt mir, nochmals ins Dorf zurückzugehen. Dort gebe es nämlich auch eine Dorfbäckerei. Die backe den besten Hefekuchen. Ich sage, dass ich dafür nun keine Zeit mehr habe, und sie holt mir im Haus ein Stück , das wirklich fein schmeckt.
Dann bedanke ich mich für die Gastfreundschaft und die vielen Tipps, ziehe weiter und stelle kurz nach Mittag fest, dass der Weg leicht ansteigt. Die erste hügelähnliche Erhebung seit langem liegt vor mir, und da zeigt mir eine Tafel auch an, dass ich nun die flache Landschaft Sachsen-Anhalts verlasse und das Bundesland Brandenburg betrete. Manchmal liegt eine tote Maus am Wegrand. Ich frage mich, warum und wie diese Maus umgekommen ist. Ob man in Brandenburg die Sache mit dem Feldhamster anders sieht.
Was mich wundert, ist die unterschiedliche Beschaffenheit der Dörfer. Die einen wirken leblos, schlecht unterhalten, baufällige Häuser überall. Im nächsten Dorf sind die Strassen frisch geteert oder gepflastert, neue Gehsteige stehen bereit, die Gärten umhagt mit neu gestrichen Zäunen oder akkurat geschnittenen Büschen. Bauernhöfe sehen aus wie in Kinderbüchern, einfach ohne Tiere – ausser vielleicht einem Hund –, es duftet würzig nach Fichtenharz und neben dem SUV steht ein Pferdeanhänger. Ich kann mir keinen Reim auf diese Unterschiede machen, aber es scheint mir, je näher ich Berlin komme, desto häufiger durchwandere ich Landliebe-Dörfer.