Spur durch Deutschland, Ludwigshafen – Frickingen, 19. Juni 2020. Es ist kühl im Strandcafé von Überlingen, aber trocken. Kühl, weil das Strandcafé eine italiensiche Eisdiele ist. Ich warte stundenlang auf das Ende des Gewitters und denke über die Churfirsten nach.
Der Wirt von der Ludwigshafener Traube sitzt allein in seiner Gastwirtschaft und schaut angestrengt in ein Buch voller Zahlen. Als ich um acht Uhr morgens eintrete und die Rechnung verlange, sagt er, ich möge mir in der Bäckerei auf der anderen Seite ein Brötchen besorgen, er habe keine. Essen könne ich es dann hier, er mache mir einen Kaffee. Der Himmel ist arg grau, die Wälder rund um den See nebelverhangen. Ich kaufe mir einen Schokogipfel und auch ein Schinkenbrot für unterwegs. Der Wirt guckt in den Bildschirm seines Computers als ich zurückkomme, stemmt sich hoch und lässt einen Kaffee aus der Maschine. Dann setzt er sich hin und schaut mich an. Wir reden über die hohen Preise hier am Bodensee-Ufer. Die von der Traube sind nicht so hoch. Es sind Preise für Monteure und manchmal für Radfahrer. Oder eben für Wanderer. Radfahrer wünschen aber im allgemeinen mehr Komfort als er anzubieten hat, sagt der Wirt. Mit Wellness und so. Das hat er nicht. Für fünfzig Euro liegt das nicht drin.
Dann schellt sein Telefon und ich beginne, den Südkurier zu lesen. Ein Redaktor schimpft auf der Frontseite über die ausbeuterischen Fleischfabrikanten, die Rumänen im Akkord Schweine zerlegen und sie in engen Baracken hausen lassen. Siebenhundert haben sich so in der Nähe von Gütersloh mit dem Corona-Virus angesteckt. Alle müssen in Quarantäne. Die Seuche sei, schreibt der Redaktor des Südkuriers, zur Seuche der Armen geworden, die sich nicht in ihre schützenden Refugien zurückziehen können. Schweine kann man nicht im Homeoffice zerlegen. Anfänglich war Corona die Seuche der Reichen – der Geschäftsleute und Touristen, die im globalisierten Dorf herumflogen. Nun ist sie definitiv zur Seuche der Armen geworden. Mich ärgert, dass ich drüben beim Bäcker ein Schinkenbrot gekauft hatte. Mag gar nicht daran denken.
Dann will mir der Wirt den Weg Richtung Ravensburg zeigen. Aber er hat alle Wanderkarten dem Bürgermeister abgeben müssen wegen Corona. Die neuen sind noch nicht gekommen. Er rät mir dringend, nicht den direkten Weg zu wählen, weil es da steil aufwärts gehe und weil sich der Umweg über den Blütenweg nach Überlingen wegen der Aussicht lohne.
Das stimmt dann sehr. Der Weg steigt zwar auch an, stetig und hoch, man hat einen wunderbaren Ausblick über den See, wenn keine Bäume davorstehen, und unterwegs sagt mir eine Waldorf-Mutter, die mit ihrem Dreijährigen unterwegs ist, ich dürfe keinesfalls die Churfirsten verpassen. So schreite ich an Obstplantagen, Schafweiden vorbei, durchwandere zwischendurch gutbürgerliche Einfamilienhausquartiere, blicke auf den See hinunter und stehe dann in einem Wald vor sieben sehr seltsamen Figuren. Den Churfirsten. Sie sollen entstanden sein, weil die obenaufliegenden Steine, die wie die Mützen von Kurfürsten aussehen, den darunterliegenden Sandstein vor Erosion geschützt haben.
Ein Paar aus Baden-Baden bewundert mit mir das Naturwunder. Sie würden gern mit dem Rad um den See fahren, aber bei diesem Wetter … ! Früher waren sie mit dem Motorrad unterwegs. In ganz Deutschland. In halb Europa. In der Schweiz fast nie, weil es da zu teuer ist. Die Schweizer haben sehr hohe Löhne, weshalb sie sich fast alles leisten können. Ihre Schweizer Motorradfreunde pflegten auf gemeinsamen Touren jeweils den Wein, den die Frau und der Mann aus Baden-Baden bestellt hatten, vor deren Augen auszuschütten, und liessen einen teureren kommen.
Durch eine enge Hohle Gasse, die einst die Gletscher ausgehobelt hatten, gelange ich just zur richtigen Zeit nach Überlingen und zwar genau zum Strandcafé, das MonikaMaria und mir vor einem Jahr im ersten Stock ein Zimmer vermietet hat. Die Kellner sind noch dieselben. Ich habe Hunger, bestelle eine heisse Schokolade und noch immer ekelt mich der Gedanke an mein Schinkenbrot im Rucksack. Ein Wind zieht auf, die Wolken sehen düster aus. Tropfen fallen und ich ziehe mich in die leere Eisdiele zurück. Sie füllt sich im Nu mit Gästen, die ins Trockene fliehen. Noch eine heisse Schokolade. Zwetschgenkuchen statt das Schinkenbrot im Rucksack – was mach ich nur mit dem? Einen heissen Kaffee später.
Alle Gäste schauen dem Regen zu, dem Nebel, der das andere Ufer verschluckt, eine Sturmlampe blinkt, ein Segelschiff schaukelt, die Fähre nach Walhausen kommt und geht. Sie kommt und geht. Sie kommt erneut und als sie wieder geht, regnet es nicht mehr stark. Drei Stunden sind vorüber, drei Stunden lang habe ich schweigend ins Grau des Sees geschaut, das war wunderbar.
Nun geht’s aufwärts an Edeka, Lidls, Musikschule, nochmals Edeka, diesmal grösser, vorbei. Am Feierabendverkehr auch. Der ist sehr rege. Moränenhügel hinauf und hinunter, es taucht ein Streichelzoo auf, dann wieder über eine Moräne, die Sonne scheint erstmals durch ein Wolkenloch, in Lippersreute bedient die Kellnerin das Apfelschorle in einem Dirndl und dann geht’s noch vier Kilometer bis Frickingen, der Landstrasse entlang. Die Autofahrer schütteln den Kopf, einige bremsen ab, als sie den Wanderer sehen, andere geben Gas und zeigen den Finger. In Frickingen hocken Störche auf den Dächern, und ein junger Bursche rast auf einem knatternden Velo die Strasse auf und ab.
Er hat sein Fahrzeug selbst gebaut, den 125-Kubik-Benzin-Motor hat er im Internet gefunden, einen Zahnradkranz am Hinterrad montiert, alles festgeschraubt und mit Isolierband gefestigt. Er trägt ein Bayern-München-Leibchen und erklärt mir sein Gefährt.
Lieber Urs. Nun hast du schon eine Woche auf dem Buckel (in den Füssen) und hast schon einiges erlebt. Das Wetter war ideal zum wandern – ausser natürlich die extremen Regengüsse. Du kannst dich aber freuen, nächste Woche soll das Wetter schön und warm!! werden. Ich lese jeden Tag deine Reiseberichte, die ich sehr spannend finde. So kann ich deine Strapazen vom Sofa aus mitverfolgen!
Ich wünsche dir weitere schöne und erlebnisreiche Tage. Ly