Spur durch Deutschland, Kempten – Ruderatshofen, 25. Juni 2020. Auf dem Haarberg drehen elf Windräder und winken hinüber zum Säntis. Den ganzen Tag tun sie das und ich habe sie immer im Blick. Und dann noch das mit Jesus!
Kurz nach Betzigau, etwas ausserhalb von Kempten, taucht das auf, was man in Deutschland seit der Energiewende häufig sieht: ein Windpark. Elf Windräder sind es, wenn man genau zählt, und man muss genau hinsehen, wenn sie in der Ferne auftauchen. Manchmal stehen zwei hintereinander und dann zählt man nur eins statt zwei. Schön sind sie nicht, das kann man nicht behaupten, auch nicht hässlich. Sie stören einfach das Landschaftsbild, und das Argument, man habe schon mit Schlimmerem ganze Gegenden verschandelt, lasse ich nicht gelten, denn so liesse sich jede Sauerei rechtfertigen. Aber eben: Die Windräder stehen da und wir brauchen ihren Strom.
Als ich sie kurz nach Betzigau auftauchen sehe, ahne ich nicht , dass sie den ganzen Tag ein Thema sind. Sie lassen mich nicht los, in Leiterberg nicht und in Wildpoldsried nicht, wo ich durch scheinbar menschenleere Dörfer wandere, die in der Mittagsstille vor sich hindösen. Wenn etwas zu hören ist, dann sind es Vögel, und bewegen tun sich nur die Traktoren auf den Feldern. Bauern holen das trockene Heu ein, einer macht mit einer Maschine die Maden, der andere würgt sie in den Ladewagen und beide in ordentlichem Tempo. Sieht manchmal aus, als ob zwei Elefanten um die Wette rennen. Ach, schon wieder so ein schiefes Bild.
Auf jeden Fall: Nach Wildpoldsried bin ich dem Windpark schon viel nähergekommen, die Masten mit ihren Propellern wirken bedrohlich mächtig. Was noch vor kurzer Zeit ein ferner Spuk gewesen ist, wird greifbar. Ich muss hinauf, dorthin, wo sie stehen – auf den Haarberg. Zwischendurch wähle ich eine Abkürzung, gehe quer durch eine frisch gemähte Wiese und vor mir steht eine alte, verwitterte Ruhebank – ich traue meinen Augen kaum: «Säntisblick» ist eingraviert.
Die Aussicht ist beispiellos – die Weite, die Wälder und hinten zwischen einem markanten Baum und einer Baumgruppe: der Säntis. Mächtig steht er da. Trutzig, trotzig. Doch Säntis? Mich dünkt eher, der Säntis sei weiter rechts, aber dann ist’s mir egal. Ich geniesse den unglaublichen Blick, strecke mich auf der Ruhebank aus und gebe mich einem Nickerchen hin. Während andernorts die Leute unter der Hitze leiden, kühlt hier ein gepflegter Wind das Ambiente.
Ein paar hundert Meter oberhalb vom «Säntisblick» dreht eins der Windräder, das ich den ganzen Morgen im Auge gehabt habe, seine Propeller. Hören tut man nichts, aber mächtig wirkt das Windrad, als ich mit ausgeruhten Gliedern oben auf dem Haarberg ankomme. Kühe weiden um den Mast herum, weiter rechts steht ein anderer ganz allein zwischen den Bäumen. Jetzt, wo ich da bin, stehe ich nur noch vor Masten, der ganze Windpark aber, den ich in Betzigau gesehen habe, ist wie verschwunden. Andere sehen vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Solche gescheiten Ideen kommen hoch, wenn man so vor sich hinlatscht, sich die Gedanken dem Trott der Schritte hingeben und man keinem Menschen begegnet. Bis jetzt jedenfalls.
Wie ich auf der anderen Seite den Haarberg runter wandere, fällt mir auf einem Hochsitz am Wegesrand von weitem ein Farbtupfer auf. Dort oben sitzt jemand, kein Zweifel. Ist schon Jagdzeit? Nein, es sitzt eine Frau dort oben, eine Mutter mit ihrem Baby. Kein anderer Mensch weit und breit, kein Fahrzeug, kein Auto, Kinderwagen, nichts. Nur die Mutter mit ihrem Kind dort oben auf dem Hochsitz. Wie die da hochgeklettert ist? Soll das Kind ein Jäger werden? Das wäre ein Thema für einen Mamablog bewusster Mütter: Bayerin mit Kleinkind ungesichert auf dem Hochsitz! Und erst noch ohne Helm. Die Frau wird mein Erstaunen bemerkt haben und ruft herunter: «Ich will ihm die Aussicht zeigen.» Doch der kleine Bub schaut gar nicht in die Weite, er starrt mich verwundert an.
In Reinhardsried würde ich gern einkehren, der Durst ist gross. Doch das «Rössle» ist ein Wohnhaus geworden, nur das goldene Wirtshausschild glänzt noch. Ich dreh mich um und seh den Windpark wieder, jetzt wieder den ganzen, alle elf. Er ist nun hinter mir, wird immer kleiner und irgendwann hinter einer Böschung verschwinden.
Der Weg ist schön, kein Teer, die Bauern fahren ihre Traktoren um die Wette, der Elbsee bei Aitrang naht. Jetzt sieht man den Windpark nicht mehr, doch in der Ferne taucht ein neuer auf. Rund um den Elbsee radeln Touristen, es hat einen Campingplatz und viele Gästezimmer. Ein letzter Effort noch, der Kirchturm von Ruderatshofen ist bereits in Sicht, als eine Radlerin brüsk vor mir bremst. Sie trägt nicht das Funktionskleid-Outfit der E-Bikerinnen, sie trägt Jeans und eine Bluse und sieht aus, wie man halt so aussieht mit rüstigen fünfzig Jahren.
Ob das der Weg zum Elbsee sei, fragt sie in deftigem Bayrisch und ich bejahe. Ob es eine Abzweigung zur Seealp gebe. Ich sage, dass ich nicht von hier sei und sie nickt und sagt, dass sie das schon höre. Aber – und jetzt wechselt sie zum «Du» – «du sprichst recht gut deutsch». Danke, sage ich und sie fragt, ob ich aus dem Südtirol komme. – «Nein, aus der Schweiz.» – Sie steht aufs Pedal, schaut auf den Weg zum Elbsee und wendet sich mir nochmals zu. «Bist du Jesus begegnet?» Ich sage, nein, nur Radlern.
Das ist nun wirklich keine gute Antwort. Sie will wissen, wann und warum ich Jesus begegnet sei oder dann halt eben nicht. Und vor allem möge ich unbedingt mit der Missionswache Keukelbad Neustadt Kontakt aufnehmen, wo man mir den Weg zu Jesus zeige. «Ich möchte dich im Himmel treffen», sagt sie und steigt dann tatsächlich in den Sattel. Sie heisse Eleonore, ruft sie zurück. Und du? Ich rufe «Urs». Gut, sagt sie, «Horst. Horst ist gut.»