Spur durch Deutschland, Odelzhausen – Friedberg, 3. Juli 2020. In Oberbayern wird ermahnt, wer ohne Maske einen Schritt ins Gartenrestaurant wagt. Tagsüber jedenfalls. Im Laufe des Abends rutschen die Masken unter die Nase, unter den Mund, unters Kinn und dann sind sie weg. Aber vielleicht nicht überall.
Bis zu 5000 Euro Busse zahlt, wer als Gasthausbetreiber die Maske nicht trägt. Das sagt der Wirt des Hotels in Odelzhausen, als er die Rechnung ausstellt. Er selbst trägt grad keine. Er findet, die Plexiglaswand zwischen ihm und uns genüge vorerst.
Lix und ich haben uns einen Plan zurecht gelegt, wie wir ohne viel Strassenverkehrskontakt bis nach Friedberg wandern – ein paar kleinere Umwege genügen. Wir gehen über Feldwege, durch Wälder, an Wildschweinspuren vorbei, an Tümpeln, wo sie sich gesuhlt haben, wir sehen Rehe durch Weizenfelder hüpfen und manchmal sticht eine Bremse zu. Unterumbach heisst ein Dorf, Oberumbach wäre das nächste, aber wir sehen es nur aus der Ferne, weil wir längst abgebogen sind in den Eurasburger Forst, was ja fast etwas verwegen klingt. Ist es aber nicht. Lix trägt seine legendäre Müller-Mütze, die er aufhat, wenn er auf Reisen in allen möglichen Orten der Welt unterwegs ist und der Eurasburger Forst ist nun auch so ein Ort auf dieser Welt.
Wir schwatzen die ganze Zeit, die rasch vergeht und durstig macht, und was wir schwatzen, ist jetzt auch nicht derart der Rede wert, dass es an dieser Stelle festgehalten werden müsste. Der Boden ist nass vom Regen der letzten Nacht, die Pfützen sind tief und weit vorn sehen wir eine Sägerei mit Baumstämmen, wo man sich draufsetzen kann. Die Flasche ist schnell leer, ich will sie auffüllen, gehe vorsichtig zur Sägerei, wo der Zugang mit einem Tor abgesperrt ist, gehe drum herum, suche nach einem Wasserhahn und werde von einer barschen Stimme aufgehalten. Die Frau hat einen dünnen Hals, eine Schürze eng um den Bauch geschnürt, ist aber ziemlich rund gebaut und erinnert mich an eine Ameise, die aufrecht geht. Sie hat uns schon lange beobachtet und will nun wissen, was wir hier suchen. Ich kann das ohne weiteres erklären und erhalte das Wasser. Gutes Wasser, sagt sie, Leitungswasser, aber gutes Wasser.
Die Wälder erinnern mit ihren bemoosten Stämmen, Schachtelhalmfeldern, durchfliessenden Bächlein und Tümpeln an Märchenorte, man geht wie auf einem weichen Teppich. Wuchtige Wolken am Himmel, Sonne dazwischen, herrliches Wanderwetter. In Rohrbach steht ein Gasthaus, wir wollen sehen, ob da ein Schorle drin läge. Die Tische scheinen gut besetzt zu sein, und Lix will im Gartenrestaurant um die Ecke schauen, doch das hätte er besser nicht getan. Die Kellnerin mit Maske bis zum unteren Brillenland ruft ihn zurück in einem Ton, der Fenster in Brüche gehen lassen könnte. So müssen die Sirenen in Odysseus’ Ohren geklungen haben. Wir warten draussen auf der Strasse, bis sie uns holt und einen Platz zuweist und zwar neben einem Motorrad, das noch von der Reichwehr stammt und hier als Liebhaberstück aufgestellt ist. Es ist eine vornehme Gastwirtschaft, in der eine Hochzeitsgesellschaft tafelt, ausser Braut und Bräutigam alle in bayrischen Trachten, Lederhosen, Dirndl und dergleichen.
Ein nächster Forst steht bevor, später weite Getreidefelder, die wie Dünenlandschaften wirken, und Mais, soweit das Auge reicht. In Hügelshart ahnen wir das Ende der heutigen Strecke, setzen uns auf ein Mäuerchen, um einen guten Schluck zu trinken und erfahren von der älteren Frau, die hier wohnt, dass genau da, wo wir sitzen, die Mauer neu habe gebaut werden müssen. Weiter oben hat eine Lehrerin, die schon seit 30 Jahren den Führerschein besitzt, ihr Auto stehen lassen, ohne die Handbremse anzuziehen. Sie hat gedacht, es genüge, den Rückwärtsgang drin zu lassen. 30 Jahre lang habe sie das so gemacht. Doch ein eingelegter Gang genügt eben nicht. Das Auto hat sich in Bewegung gesetzt, ist mutterseelenallein die Strasse heruntergedonnert und hat die Gartenmauer zerstört. Wenig später hat ein Autofahrer etwas weiter links einen anderen Teil der Gartenmauer mit einem Ausweichmanöver eingedrückt, aber jetzt ist alles geflickt und wir sitzen drauf auf dieser Mauer.
Friedberg steht auf einem Hügel kurz vor Augsburg, ein Platz mit einem Ratshaus drauf, ringsum drei-, vierhundertjährige Altstadthäuser, ein paar Restaurants, Läden für Dinge, die nicht unbedingt zum täglichen Gebrauch gehören, ein Weltladen, ein Naturhaus mit lauter gesunden Dingen, junge Leute, die am Freitagabend chillen, ältere Leute, nichts Aufregendes, eine Ort, der eingeschlafen scheint und doch lebt. In der Altstadtpension Waltner liegt ein Schlüssel bereit, wir beziehen unsere Zimmer. Es ist ausser uns kein Mensch im Haus.
Im Gambrinus wollen wir uns hinsetzen, wir sind die ersten Gäste, die Kellnerin begrüsst uns mit einem «GrüessDi», was etwa tönt wie «Grüezi». Wir unterhalten uns mit ihr, der Kellner kommt hinzu, beide die Masken bis weit über die Nase. Der Kellner scheint sich zu langweilen, albert rum, und sie erklärt uns, was «GrüessDi» heisst. Sie stammt aus Moldawien, ist vor vier Jahre nach Deutschland gekommen und hat damals nur ein Wort gekannt: «kaputt». Jetzt spricht sie perfekt deutsch, studiert in Augsburg SocialMedia und ist im August fertig.
Der Kellner, Marco, taut auf, als nächste Gäste kommen, es sind vor allem Frauen. Sie bestellen dies und das, er rennt hin und her, macht Faxen, die man hinter der Maske nicht sehen kann, versprüht Charme, der ebenfalls etwas verborgen bleibt, zupft an der Maske, sie sinkt tiefer. Unter die Nase erst. Auch bei der Kellnerin. Später ziehen sie sie zur Oberlippe, zur Unterlippe dann. Sie hängt am Kinn, und als wir zahlen ist die Maske weg. Es wird wohl kein Polizist mehr kommen heute Abend.