Spur durch Deutschland, Frickingen – Wittenhofen, 20. Juni 2020. Auch ein lokales Gewitter kann sehr heftig sein und einem den Tag ganz schön versauen. Wo’s nach Ravensburg geht, weiss niemand. Es ist Zeit für einen Plan.
Ein seltsames Geräusch lässt mich zwei, drei Mal aufhorchen in der Nacht. Storchengeklapper. Die freundliche Frau Endress, die mir ein Gästezimmer angeboten hat, erzählt mir Sonderbares von den Störchen. Man habe vor Jahren einige Paare angesiedelt am Affenberg von Salem, einem Freilaufgehege. Dort, in der Nachbarschaft der Berberaffen, haben sie sich so stark vermehrt, dass einige ein neues Revier suchen mussten. Und das ist nun eben Frickingen. Sie sind mir schon gestern Abend aufgefallen. Auf Dächern, auf Strom- und Lichtmasten. Sobald sie eine kleine Fläche finden, um ein Nest zu bauen, werden sie tätig, erzählt Frau Endress. Einmal mussten die Stadtwerke aus Sicherheitsgründen einen Mast mit einem Nest obendrauf entfernen, und die Störche seinen drum herum gekreist und hätten geklagt, wie ein altes Ehepaar, dem man das Haus abreisst. Die beiden sind auf ein Kamin gezogen. Seltsamerweise bevölkern die Störche nur den unteren Teil des Dorfes. Oberhalb der Kirche gehen sie nicht hin, und niemand weiss warum.
Beim Loswandern beobachte ich, wie die alten Störche die Jungen fliegen lernen. Die Eltern hüpfen auf dem Nestrand auf und ab und schlagen mit den Flügeln. Der Nachwuchs schaut aber nur dumm zu. Andere Vögel scheinen die Frickinger nicht so zu schätzen. Aus den Kirschenplantagen heraus dröhnen in regelmässigen Abständen Schüsse, um sie zu vertreiben – Warn- oder Schreckschüsse. Eine Schale Kirschen kostet drei Euro. Die Schalen stehen auf Tischchen neben den Plantagen, und manchmal fahren Autos auf den Rad- und Wanderwegen heran, um die Kirschen zu kaufen.
Richtung Ravensburg steigt der Weg stetig, ich weiss nicht warum. Es kann mir auch niemand erklären, wo man nach Ravensburg durchgeht, denn die Leute finden es ziemlich unsinnig, hier nach Ravensburg zu wandern. Unter Wanderungen verstehen sie eher Rundwanderungen. Hinter dem Hof «Holdern», wo keine Kirschen angeboten werden, sondern Kälber dem Metzgertermin entgegengrasen, karrt ein Bauer Unmengen von Holz auf eine Feuerstätte.
In Lellwangen haben sich in alten Bauernhäusern ein paar Alternativ-Mittelständlerinnen und -ständler niedergelassen. Man sieht, dass sie ständig am Heimwerken sind und auch schöne Nester bauen. Ein Mann wirft einen Betonmischer an, eine Frau hängt bunte Kleider auf, es blüht üppig in den Gärten und vor einem Haus stehen grad zwei Döschwos. Hier kostet die Schale Kirschen nur zwei Euro. Ein Mann sitzt vor dem Haus an einem Tisch, und weil das Haus an der Strasse steht, tut das der Tisch auch. Er schneidet Speck zu Streifen, fischt Gurken aus einem Glas und isst. Es gehe jetzt steil hinauf, sagt er, dann lange steil hinunter, dann wieder lange steil hinauf und dann ebenaus. So etwa verlaufe der Weg nach Ravensburg. Seinen Hunden wirft er etwas Speck zu und ich steige den Weg hinauf.
Es ist ein wunderprächtiger Ausblick dort oben. Ich setze mich auf eine Bank und sehe ein weites Alpenpanorama vom Säntis bis – naja, von hier aus kenne ich die Berge nicht so gut. Ich überlege mir, am Abend in der Hängematte zu schlafen, betrachte fasziniert die Landschaft. Ein Kleinflugzeug kreist über mir, macht einen sehr unangenehmen Lärm. Da nützt es nicht viel, wenn der Himmel ohne Kondensstreifen ist, so lange irgendein Bonze in seinem Drecksflieger da oben herum rumort. Man kann ja sagen, was man will, aber die Mallorca-Maschinen, Hellas-Hüpfer und Thai-Bumsbomber, die den Himmel verschmieren, machen wenigstens keinen Lärm.
In derartigem Tiefsinn versunken, schreckt mich ein heftiger Donner auf. Die Sonne ist zwar schon eine Weile verschwunden, aber ich habe nicht bemerkt, dass hinter mir ein Unwetter aufgezogen ist. Den Rucksack habe ich noch gar nicht richtig angeschnallt, prasselt es auch schon los und zwar ohne Einstimmen. Fortissimo, molto sforzato. Es ist sinnlos, einen Unterstand zu suchen, ich wüsste nicht wo. Ich reisse die Regenhülle für den Rucksack hervor, um ihn zu schützen, stülpe mir einen weiten Regenschutz über, auch wenn ich schon nass bin und warte. Fassungslos. Vor mir hüpft etwas übers nasse Laub – ein Hagelkorn. Ein Körnchen nur, aber es kommen mehr und sie werden grösser. Und dichter. Heftiger. Sie prasseln auf die Pelerine über dem Kopf und es fühlt sich an, als ob man in einer Wellnessanlage unter der Röhre steht, die einem mit kräftigem Wasserstrahl die Kopfhaut massiert.
Der Hagel hört dann auf, aber der Wolkenbruch nicht. Weit vorn über dem Bodensee dünkt mich das Wetter besser, vielleicht sogar sonnig. Ein lokales Gewitter eben. Lokal heisst ja nicht, dass Blitz und Donner, Hagel und Regen niedlich sein müssen. Auch nicht, dass sie schnell vorbei wären. Wobei «schnell» sowieso relativ ist. Anderthalb Stunden stehe ich oberhalb Lellwangen, denke kurz an die bunten Kleider, die die Althippiefrau vorher aufgehängt hat, und breche dann bei nachlassendem Lokalregen auf, über einen sehr glitschigen Weg hinunter ins Tal. Alles nass und auf Hängematte habe ich keine Lust. Eine Spaziergängerin mit Hund geht vorbei und schaut mich fassungslos an. Sie trägt das Logo eines Vereins aus Ravensburg auf ihrer Jacke. Ich frage sie des Weges. Wo man am besten durchgehe, weiss sie nicht. Ich sei nicht gerade auf falschem Pfad, aber so schnell würde ich es nicht schaffen, sagt sie. Sie bietet mir an, mich im Auto mitzunehmen, da sie bald nach Ravensburg fahre. Doch so schnell mag ich nicht klein beigeben.
Ich ziehe los, will mich bei der erstbesten Lokalität nach einem Nachtlager erkundigen und dort in mich gehen und zwar über Karten gebeugt. Ein bisschen planen sollte ich den Weg der nächsten Tage. Er – der Weg – ist natürlich schon das Ziel, aber irgendwann möchte ich in München ankommen. Sonst wird das Allgäu grenzenlos.
Hallo Urs,
Toll schreibst du ! Auch ich verfolge deine Wander Erlebnisse mit Spannung und Freude.