Ahnensuche auf dem Waldfriedhof

Spur durch Deutschland, Schaffhausen – Singen, 17. Juni 2020. Das Grab von Richards Eltern ist im starken Regen nicht zu finden. Lange Zeit nicht, jedenfalls. Kurz nach Thayngen lockern sich die Wolken und in einem Gottmadinger Café fällt uns auf, dass die Frauen die schöneren Masken tragen.

Die Schweiz weit hinter sich, einen deutschen Schäferhund im Rücken

Grau hängt der Himmel über der Schaffhauser Webergasse und über allen anderen Gassen natürlich auch. Wir trinken einen Kaffee und Richard schlägt vor, ein kleines Frühstück in der Bäckerei zu essen, die einst sein Grossvater führte. Bäckerei zur Tanne heisst sie, wenn ich mich richtig erinnere. Ein Blick durchs Schaufenster zeigt uns, dass da nichts ist mit einem Kaffee. Wir setzen uns vors Caffè Spettacolo und trinken Cappuccino. Die Leute hier begrüssen sich mit Küssen auf beide Backen. Erste Tropfen fallen. Die Bäckerei des Grossvaters lässt Richard keine Ruhe, wir gehen hinüber und kaufen zwei Sandwiches zum Picknick. Ich sage zur Verkäuferin, einer Frau aus der deutschen Nachbarschaft mit pfiffigem Kurzhaarschnitt: «Sein Grossvater hat diese Bäckerei geführt.» Sie hält kurz inne, denkt nach und sagt: «Dann sind Sie ein Aschinger!» Und nun wird Vergangenheit aufgearbeitet. Der Mann, der Grossvater Aschinger das Geschäft und das ganz Altstadthaus abgekauft hat, soll ein geldgieriger Kerl gewesen sein, schimpft die Frau. Das Geld war ihm wichtiger als der Mensch. Undsoweiter. Richard pflichtet bei und weiss nicht, wo ihm die Ohren stehen, so wie die Frau ablästert. Unterdessen hat sich die Sache allerdings zum Besseren gewendet. Der Geldsack hat verkauft, und der jetzige Besitzer ist in Ordnung.

Das Nieseln draussen ist heftigem Regen gewichen, wir gehen hinaus zum Waldfriedhof, den mir Richard zeigen will, weil er etwas Einzigartiges ist in der Schweiz. Die Stadt Schaffhausen hat angesichts steigender Einwohnerzahl 1914 einen nahegelegenen Wald zum Friedhof bestimmt. Er ist sehr gross, 400 auf 400 Meter, noch grösser sogar. Dort begraben die Schaffhauser ihre verstorbenen Angehörigen und pflegen Familiengräber. Es ist der einzige Friedhof der Stadt. Wenige Jahre nach seiner Einweihung – zur Zeit der Spanischen Grippewelle – soll das Totenglöcklein jeden Tag fünf bis sechs Mal geläutet haben und dem Waldfriedhof schon mal eine ordentlich Grundbelegung beschert haben. Ein Platz ist den 40 Toten gewidmet, die bei einem amerikanischen Bombenangriff am 1. April 1944 ums Leben kamen.

Es ist ein beeindruckendes Erlebnis, durch einen dichten Wald voller Gräber zu wandern. Ganz speziell bei strömendem Regen. Richard will dann auch schnell das Grab seiner Eltern besuchen und zeigt mir den Weg dorthin, an Statuen vorbei, an Musen, an Knäblein aus Bronze, durch schmale Pfade und tropfnasses Gebüsch. Ich rede jetzt nicht lang um den Brei herum: Wir finden dieses Grab trotz intensivem Suchen nicht, die Kleider sind schwer vom Wasser und Richards Eltern unauffindbar. Als sich dann abzeichnet, dass unser Suchen vergeblich bleiben wird, spricht Richard einen Satz aus, über den ich eine ganze Weile nachdenken muss: «Meine Mutter ist es gewohnt, dass ich ihr Grab nicht finde.»

Irgendwo im Wald muss das Grab zu finden sein
Aber er gibt nicht auf. Wir suchen die Friedhofverwaltung auf, wo ein freundlicher Herr aufmerksam zuhört, am Computer «Aschinger» eingibt, ein paar präzisierende Fragen stellt und dann auf einem Plan einen Ort mit Kugelschreiber einfärbt. Dort muss das Grab zu finden sein. Ich frage beim Abschied, da wir schon zu so kompetenter Stelle vorgedrungen sind, ob’s auch Rehe gebe in diesem Friedhof. Der Mann lacht, sagt nein, und mokiert sich ein bisschen darüber, dass die Basler auf ihrem Friedhof Hörnli, der ja nicht einmal ein Waldfriedhof ist, Probleme mit Rehen haben, die den Grabschmuck fressen. Der Schaffhauser Waldfriedhof ist eingezäunt. Rehe gibt es keine, aber in etwa zwei Wochen beginnen die Glühwürmchen zu glimmen.

So. Wir müssen weiter, suchen das Grab auf. An der Stelle, wo es ungefähr liegen muss, greift Richard in die Jackentasche, sucht in der anderen, sucht da und dort und überall. Er hat den Plan verloren. In aller Bescheidenheit darf ich verkünden, dass ich es dann entdeckt habe, stark überwachsen.

Regenlandschaft zwischen Schaffhausen und Thayngen
Jetzt ziehen wir aber los, erst einer Teerstrasse entlang, an deren Ende ein UBS-Verwaltungsgebäude steht, was Pikettys Kapital wieder in Erinnerung ruft. Aber wir können nicht gut diskutieren, der Regen ist laut, die Kapuze verschluckt die Worte. Im Schutz einer Waldhütte essen wir die Sandwiches, frieren in den nassen Kleidern, brechen auf und marschieren durch malerische Regenlandschaften. In der Ferne erblicken wir den Hohentwiel, das Wahrzeichen Singens, das einst ein Vulkan war und heute mit einer Festungsruine verschandelt ist. Oder verziert, je nachdem. Singen ist unser Ziel.
Im Hintergrund taucht der Hohentwiel, das Wahrzeichen von Singen, im Nebel auf

Verschiedene Male überschreiten wir die Grenze, wandern mal in der Schweiz, mal in Deutschland. Beim letzten Grenzübertritt vor Singen grüsst ein Schweizer Dreikäsehoch von einem einem Lichtmast, blickt zurück ins Schweizerland. Dahinter bellt ein deutscher Schäferhund.

In einer Bäckerei in Gottmadingen steht ein Tisch mit zwei Stühlen, wo wir Kuchen essen und Schokolade trinken. Wir bestellen die Herrlichkeiten mit der Maske vor dem Gesicht und legen sie weg, sobald wir uns an den Tisch gesetzt haben. Durchnässt und bereits etwas müde, weckt eine spontane Beobachtung die Lebensgeister: Männer, die in die Bäckerei eintreten, begnügen sich mit handelsüblichen Masken, die man im Zehnerpaket erhält, manchmal stülpen sie sich die Feinstaubmasken aus Werkstätten über. Kinder tragen Masken bunt und Frauen wählen sie passend zur Jacke, geblumt, gestreift, uni, dezent, grell. Sie legen Wert auf Stil. Masken werden Accessoires.

Wildes Treiben auf Singens Rathausplatz
In Singen ist unsere gemeinsame Wanderung zu Ende. Richard reist wieder heim. Ich ziehe alleine weiter. Es wird alles wieder anders. Wir haben grosse Lust auf grosses Bier, sitzen zusammen in einer feinen Gaststätte, bis der Zug in die Schweiz fährt, und sind ziemlich müde geworden.

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