Spur durch Deutschland, Nürnberg, 13. Juli 2020. Ohne Christchindlesmarkt ist Nürnberg eine ganz nüchterne Stadt mit schönen Ecken, historischen Winkeln und einem historisch sehr belasteten, vergangenen Jahrhundert. Nun boomt sie und integriert. An einem Montag aber mag sie nicht so aus sich herauskommen.
Ja, Nürnberg habe ich mir anders vorgestellt. Zum Beispiel kleiner. Frauenvereine aus der Schweiz fahren im Dezember in einem Autocar nach Nürnberg und die Rückkehrerinnen erzählen mit glänzenden Augen vom Christchindlesmarkt. Der sei so schön, so berührend. Er ist bald 400 Jahre alt, aber Mitte Juli sieht man nichts davon. Dort, wo im Dezember die Stände stehen und die Häuser geschmückt, beleuchtet und bekränzt werden, führt jetzt eine Strasse voller Baustellen durch und ganz zuoberst steht die Burg, die nach der Bombardierung durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg wieder rekonstruiert und hingestellt wurde wie auch andere Teile der historischen Stadt.
Die Burg sieht mächtig aus, gewiss, aber von aussen ist sie wahrscheinlich eindrücklicher, als wenn man drinnen steht. Deshalb gehe ich gar nicht hinauf. In einem Café beim Weissen Turm lese ich in den Nürnberger Nachrichten, dass Donald Trump nun auch eine Maske trägt, dass der Wurstproduzent Tönnies ein unverschämter Kerl sei, weil er nach dem Corona-Skandal auch noch Staatsgeld erbitte, dass auf Mallorca die Ballermann-Saison losgegangen und die spanische Polizei gegen die deutschen Horden machtlos sei. In Nürnberg ist das anders: Am Samstag haben die Ordnungskräfte konsequent durchgegriffen, wenn die Party-Szene zu dicht geworden ist. Weiter lese ich, dass die Schriftstellerin Juli Zeh sich selbst interviewt. Aber vor allem berichtet die Zeitung über den Ligaerhalt des 1. FC Nürnburg.
Ordnungsgemäss habe ich im Café meinen Meldezettel ausgefüllt: Name, Vorname, Ankunftszeit, Telefonnummer und Mailadresse. Der Zettel liegt neben der Zeitung, und ein Kerl in Jeans und weissem Hemd, der sich nicht an den Corona-Abstand hält, fixiert ihn und fragt, was das .ch in meiner Mailadresse bedeute. Ich sage: Schweiz. Er lacht und behauptet, .ch gebe es nicht mehr lange, .de übrigens auch nicht. Künftig werde alles .com. Man wolle alles unter Kontrolle bringen und deshalb würden bald alle Websites auf .com enden. Er war einst in der Piratenpartei, aber jetzt nicht mehr. Dann schnallt er seinen «Söderlappen» um, wie er die Maske nennt, geht ins Café und bestellt sich was zu trinken.
Nebenan steht das Ehekarussell, ein Brunnen mit mächtigen, freizügigen Bronzeakten, der dem Gedicht «Das bittersüße eh’lich‘ Leben» des Nürnberger Meistersingers Hans Sachs nachempfunden worden sein soll. Sachs hat von 1494 bis 1576 hier gelebt, war auch noch Schuhmacher, und wenn er dichtete, dichtete er derb. Und der Brunnenkünstler bildete den Ehebrunnen derart im Sinne von Hans Sachs nach, dass das 1984 erstellte Werk, das einen Lüftungskanal der unten durchfahrenden U-Bahn kaschieren soll, 1984 als vulgär kritisiert wurde. Jetzt beachten ihn nur noch Touristen.
Es ist früh am Morgen, alles träge, das Wochenende steckt den Menschen in den Knochen und mich dünkt, ich könnte einem Zeitgenossen von Hans Sachs die Ehre zu erweisen. Ich spaziere über die Pegnitz, den Fluss, der die Stadt durchquert, hinüber ins Albrecht Dürer-Haus, wo ich der einzige Besucher bin. Dürer war ein grosser Gelehrter, ein Humanist, Maler, Drucker, Mathematiker und ich habe ihn ganz für mich allein. Nun möchte ich aber etwas vom heutigen Nürnberg sehen und kaufe das Buch «jede menge leben» der Nürnbergerin Katharina Wasmeier, das mir eine Leserin dieses Blogs empfohlen hat. Das Buch und die Tipps darin sind spannend und überraschend, doch es zeigt sich ein Problem: Corona hat manches lahmgelegt in dieser Stadt. Und: An einem Montag ist fast alles andere auch dicht. Der Montag ist noch viel schlimmer als Corona. Krass.
So breche ich auf, hinaus zum Reichsparteitagsgelände, das die Nazis in den 30-er Jahren errichtet haben, wo sie ihre Macht zur Schau stellten, ihre Propagandaschlachten starteten, ihre Aufmärsche zelebrierten und wo heute ein Dokumentationszentrum steht, das die Gräuel der Nazizeit ungeschönt darstellt. Es ist unheimlich, wie Architektur nackte Brutalität verherrlichen kann, wie drohend diese Bauten wirken, wie düster das Gelände. Das Grauen befällt mich wieder wie in Dachau, neben den Bildern des Terrors, der nackten Gewalt, des irren Fanatismus erschrecken von immer neuem die Bilder der Massen, die Hitler zujubeln. Das macht Angst. Die Mauern der Nazi-Gebäude scheinen zu verfallen, aber die Stadt bemüht sich, sie als Mahnmal für kommende Generationen zu erhalten. Nürnberg will 2025 Kulturhauptstadt Europas werden und dabei spielt das Reichsparteitagsgelände eine zentrale Rolle. «Wir wollen diesen Ort der Kunst übergeben», sagt der Leiter der Nürnberger Bewerbung in hiesigen Zeitung.
Auf dem Weg hinaus aufs Gelände und wieder zurück in die Stadt durchquere ich den Agglogürtel, wo sich die kommende Gesellschaft bildet, wo die Integration tägliche Realität ist, wo das Leben pulsiert – nicht das glänzende, sondern das schwitzende, leidende, feilschende, lachende, laute, legale und illegale, Bambus-China, Atusha-Paradies, Top Shisha, Lilya Gardinen, Internetcafe Academy, Balkan-Kik, Lahmacun Döner, Fahrschule, Spielothek, Pizza Laura, Copy-Shop, Rewe, Eldorado, Kleist-Transporte, Juwelier Dubai, Ciqkofte Falafel, Märklin Modelleisenbahn, Safen KFZ-Werkstatt …
Vor etwas mehr als 80 Jahren haben die Nazis etwas weiter draussen Rassengesetze erlassen, heute leben von der halben Million Einwohnerinnen und Einwohner in Nürnberg zwei Fünftel der Menschen mit Migrationshintergrund in dieser Stadt, und zwar vor allem in diesem Integrationsgürtel. Da ist doch immerhin etwas geschehen in dieser Zeit, da entsteht etwas, mag man hoffen. Christchindlestandort ist Nürnberg nur für eine kurze Zeit im Jahr, hauptsächlich ist es eine ziemlich normale, grosse Stadt – ein Hauch von Grossstadt weht über der Pegnitz.