Ein Zugkalb namens Frieda

Spur durch Deutschland, Ravensburg – Reipertshofen, 22. Juni 2020. Missmut, wo man hinschaut in dieser pittoresken Kleinstadt Ravensburg. Der Himmel grau, der Daumen immer nah an der Hupe. Auf dem Land bricht die Sonne durch und zwei junge Damen testen ein neuartiges Gefährt.

Hebt die Stimmung nur unmerklich: Mercedes für 700 Euro vor verfallendem Haus

An der Bachstrasse, wo gestern Abend so heiteres, frühsommerliches Lachen, Schwatzen und Treiben war, stehen nur noch die vielen leeren Tische, alle desinfiziert, wie es sich gehört in diesen Zeiten. Als ob jemand einen Stecker gezogen hätte und alles zum Stillstand gekommen wäre. Ein Café hat geöffnet und die Kellnerin schimpft mit stark slavischem Akzent über die «Weicheier», die gestern gearbeitet haben. Sie hatte offenbar frei am Sonntag, aber jetzt hat sie den Dreck! Die Weicheier haben geschludert offenbar. Der Chef, der die Lesebrille vergessen hat und deshalb sehr konzentriert in den Bildschirm schaut, beschwichtigt die Kellnerin. Es sei arg viel Arbeit gewesen am Sonntag. Arg viel. Alle hätten alle Hände voll zu tun gehabt. Geschuftet hätten alle. Die Kellnerin beharrt darauf: «Weicheier.»

Gar niemand mag fröhlich sein. Ich will ein paar Einkäufe erledigen, ein Paket wegschicken. Überall stehe ich im Weg. Man will mich nicht sehen in den Läden. Kunden am Montagmorgen, an einem grauen, verhangenen erst noch, sind wirklich das überflüssigste der Welt. Ein feingekleideter Herr in schwarzem Anzug und hellblauer Fliege spielt Cello vor der Papeterie. Das sollte er nun wirklich nicht tun. Es tönt so überhaupt nicht heiter. In der Papeterie funktionieren die Kassen nicht und auf Kleingeld sind sie nicht scharf. Ich lege es dem Musikanten in den Kasten, und er schaut mich mürrisch an.

Die Autofahrerinnen und -fahrer sind grantig, drücken ständig auf die Hupe, und es scheint in der Stadt manches Missgeschick geschehen zu sein: Martinshörner, Polizeisirenen … Als einzige mimen ein paar Roma Fröhlichkeit, fünf Männer und eine Frau, die Gesichter gezeichnet von den Jahren – so um die vierzig sind sie alle. Die Frau köpft eine Flasche Sekt, reicht sie herum und achtet darauf, dass sie immer zu ihr zurückkommt. Einer raucht einen hammerdicken Joint. Ihre verzweifelte Heiterkeit macht einen beklommen.

Meine Lust, eine Stunde lang einer Ausfallstrasse dieses verkaterten Ravensburg entlang zu wandern, ist klein und so steige ich für ein paar Kilometer in den Bus. Die Masken der Passagiere hellen die Stimmung nicht auf, und die beiden Schulkinder vor mir, die sich die Prüfung von heute morgen Frage für Frage in Erinnerung rufen, auch nicht. So vieles haben sie falsch beantwortet, dabei hat die eine, wie sie ihrer Freundin erzählt, den ganzen Sonntag gelernt.

Der Himmel wirkt lange Zeit bedrohlich

Bei einem grossen Edeka steige ich aus, ein dm-Müller steht auch dort und zwei Wurstbuden. Der Fuss tut wieder weh und wo der Weg durchgeht, ist mir noch nicht so klar. Ein Mercedes C wäre für wenig Geld zu haben, er steht vor einem verfallenden Häuschen zum Verkauf. Das Bild weckt Fantasien und so geht das Wandern leichter, auf und ab durch diese weite Landschaft, an Höfen, Weilern vorbei, manchmal kleinen Dörfern. Die Wolken reissen auf, ich spaziere durch Wälder, über Höhen, nehme Abkürzungen über frischgemähte Wiesen und setze mich auf die Treppe einer Kapelle, trinke Wasser, eine ganze Weile lang. Da kommt von irgendwo eine Göre auf einem Rad herangefahren und sagt, wenn ich in die Kapelle rein wolle, solle ich es tun, sie sei offen. Ich will aber nicht, und sie verschwindet.

Bald kommt sie wieder, diesmal mit einer Freundin. Das heisst: Mit einer Freundin und einem Kalb. Und einem Gefährt, auf dem die Freundin sitzt. Die beiden findigen Damen sind zwar erst etwa dreizehn Jahre alt, haben aber ein funktionstüchtiges Fortbewegungsmittel mit Karren, Deichsel, Geschirr und Seilen gebaut, das sie mir wortreich erklären und dann vorführen. Da wächst den Männern im motorenfixierten Schwaben eine bemerkenswerte Konkurrenz heran. Das Kalb heisst übrigens Frieda.

Frieda, das Zugkalb

Ich wandere Richtung Kisslegg, einem herausgeputzten Ort auf dem welligen Allgäuer Plateau. Kisslegg hat einen See, den Zeller See, die Gasthäuser sind meist frisch renoviert, die Wirtshausschilder leuchten golden. Die Schaufenster sind voller Sachen, die man nicht brauchen kann, der Edeka steht am Dorfrand neben der Albert-Schweitzer-Schule und der Skateanlage. Zum Wandern ist es prächtig, endlose Weiten. Weit hinten nur sieht man die bayrischen Alpen, die Wolken bauen wuchtige Gebilde und Burgen. Oft führt der Weg durch einen Wald.

Blick übers Allgäu zu den bayrischen Alpen

Und dann stehe ich plötzlich vor dem Landhotel Zerlaut in Reipertshofen. Ich frage nach einer Unterkunft – und eine solche ist zu haben zwischen zwei Bauernhöfen und einem Waldrand. Der Wirt trägt einen gezwirbelten Schnurrbart und wenn er hinter der Receptions-Loge hervorkommt und die Maske hochzieht, gucken die Spitzen oben über den Mundschutz. Er fragt, ob ich was essen möge. Ich sage ja. Er sagt, sie hätten heute zwei Menus: Pommes mit Schnitzel. Oder: Pommes mit Cordon-Bleu. Ich entscheide mich für das erste. Er fragt, ob ich sofort essen möchte. Ich sage, dass ich zuerst duschen würde. Das gehe in Ordnung, sagt er. Wenn ich in die Gaststube komme, solle ich läuten. Ich sei der einzige Gast. Später dann, als ich in der Gaststube sitze und geläutet habe, bringt er ein Bier. Er fragt, ob ich ein Glas brauche. Dann stellt er den Teller auf den Tisch und bevor er verschwindet, sagt er: «Dann bis morgen.»

 

 

 

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