Spur durch Deutschland, Leipzig – Löbnitz, 2. August 2020. Es fällt mir schwer, Leipzig zu verlassen, denn es gefällt mir in der Stadt. Zudem vermute ich, dass nun eine eher eintönige Gegend vor mir liegt. So ist es.
Eine Stadt an einem Sonntagmorgen hat einen besonderen Reiz. Die heitere Geschäftigkeit und der Trubel des Samstagsabends klingen in den Gassen leise nach. Aber es ist nun still und man nimmt Dinge wahr, die man übersieht, wenn es so wuselt in jeder Ecke. Eine Weile lungere ich auf dem Marktplatz herum, dann vor der Nikolaikirche, bis ich mich aufraffe und losziehe. Im Norden der Stadt, wo ich durchwandern werde, liegt die Messe, der Flughafen, stehen Industriebauten. Ein Stück weit fahre ich mit der S-Bahn, steige an einem trostlosen Bahnhof aus, wo sich ausser einer stämmigen Frau mit einem übergewichtigen Hund kein Leben regt.
Meine Gedanken sind immer noch in Leipzig, wo das Gewerbe jammert, weil Corona die Touristen vertrieben habe, vor allem die Amerikaner und Chinesen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, welches Gerangel herrschte, wenn noch mehr Menschen in der Stadt wären. Aber vielleicht erfüllen sich die Wünsche der Wirte bald, denn auf der Anflugschneise zum Flughafen Leipzig, unter der ich durchgehe, fliegen die Maschinen im Fünf-Minuten-Takt heran. Sie schlüpfen aus der Wolkendecke heraus und nähern sich der Landepiste.
Es wäre angenehmes Wanderwetter. Von der Temperatur her. Aber der Genuss hält sich heute in Grenzen. Diese flache Einöde mit Stoppelfeldern, soweit das Auge reicht, ist irgendwann nicht mehr sehr attraktiv. Da ändern auch die Windräder nichts dran, die paar Hecken, die man hat stehen lassen, noch weniger die Maisfelder, die sich da und dort erstrecken. Am Anfang ist der Weg okay: Betonstreifen aus DDR-Zeiten markieren ihn, einer links, einer rechts, dazwischen eine Gras- oder Kiesnarbe, auf der ich gehen kann. Kein Mensch weit und breit und nur manchmal saust, ta-tag-ta-tag, ein Auto heran und verschwindet irgendwo.
Tropfen fallen, und das ist am Anfang auch noch recht angenehm. Das hatte ich schon lange nicht mehr. Der Betonplattenweg endet, es folgt Asphalt. Feldwege gibt es hier keine zwischen den Dörfern, die wieder sehr besondere Namen tragen wie Mocherwitz, Hohenroda, Luckowehna, Wannewitz und ähnliches. Nur noch Teerstrassen. Ich stelle heute gewiss einen Rekord auf: Noch nie so viele Kilometer auf Asphalt zurückgelegt. In einem dieser Dörfer scheint mir, die Tropfen fallen dichter, und ich setze mich auf eine überdachte Ruhebank mit Tisch, die neben dem Lokal der Freiwilligen Feuerwehr steht. Neben einem Kinderspielplatz gehört in dieser Region ein Gebäude der Feuerwehr zu jedem Dorf. Möglicherweise gibt es ein Gesetz, das dies vorschreibt. Es sind meist kleine Häuschen, manchmal auch stattliche, die recht gepflegt und gut unterhalten wirken.
Und da steht in Kreuma eben diese überdachte Ruhebank, die sich die Freiwillige Feuerwehr wahrscheinlich aufgestellt hat, um nach den Übungen jeweils in geselliger Runde ein Bier zu trinken. Ich setze mich unters Dach, als ziemlich heftiger Regen einsetzt, sehr heftig sogar. Ein Dorf in Sachsen, eine Feuerwehr-Ruhebank mit Dach, ein Wanderer auf der Bank, viel Regen und sonst nichts. Kein Mensch, kein Auto, keine Katze, nichts.
Der Regen wird schwächer, ich ziehe weiter, an Maisfeldern vorbei. Die Schnurrbärte der Maiskolben sind schon schwarz, die Blätter dürr und sie rascheln im Wind – da wird nichts mehr grün, es könnte tagelang regnen. Auch wenn der August erst angefangen hat, so kündet sich der Herbst schon ziemlich streng an. Im nächsten Dorf weiden immerhin ein paar Pferde in einem Gehege und mir scheint, ich hätte eine Frauenstimme in einem Stall gehört. Da und dort stehen Autos herum, eines vor einem einsturzgefährdeten Gemäuer, in einem Garten sehe ich auf einem Tisch Frühstücksgeschirr, einen halbvollen Brotkorb und ein aufgeschlagenes Ei stehen. Alles nass, die Leute müssen den Tisch fluchtartig verlassen haben. Aus einem Briefkasten tropft eine feuchte Sonntagszeitung.
Auf den offenen Feldern stinkt es heftig. Man düngt mit Schweinegülle hier. Es muss ziemlich viele Schweine geben, um so riesige Flächen zu begiessen. In Wannewitz regnet es wieder in Strömen. Unter einer überdachten Bushaltestelle warte ich auf das Ende dieses Schauers und höre Kinderstimmen. Es gibt also Menschen, wenn auch kleine. Ich entdecke eine Werkstatt, in der ein Oldie-Fan Trabis, Wartburgs und DDR-Motorräder instand stellt. Sonst herrscht Stille. Hier würde ich in einen Bus steigen, auch wenn ich am Morgen bereits S-Bahn gefahren bin. Aber am Wochenende verkehren keine Busse.
Der Regen lässt nach, er kommt wieder, in Reibitz finde ich nichts zum Unterstehen, eile weiter Richtung Löbnitz und nähere mich der Dübener Heide, die auf einer alten Anzeigetafel am Wegrand als Urlaubsgebiet angepriesen wird. Zu DDR-Zeiten wurde im Westen der Heide im Tagbau Braunkohle abgebaut, und im Osten gab es Begegnungsstätten und Betriebsferienlager. Mein Ziel ist Löbnitz, ein Ort unmittelbar am Rand dieser Heide. Seit zehn Jahren wird auch er als Ferienort angepriesen, weil er zwischen zwei Seen liegt, dem Seelhausenersee und dem Mühlfeldsee. Am Dorfeingang fällt mir der riesige Schweinebetrieb mit seinem strengen Geruch auf. Ich höre die Tiere quietschen, lärmen und grunzen.
In der Pension in der Mitte des Dorfes ist ein Zimmer frei. Die Besitzerin fragt, ob ich an den Seen gewesen sei und ist enttäuscht, dass ich sie hinter den Maisfeldern kaum gesehen habe. Ich verspreche, sie mir morgen anzuschauen und frage nach einer Möglichkeit, ein Bier zu trinken und etwas zu essen. Kein Problem sagt sie, der Goldene Stern habe zwar geschlossen, aber die Eisdiele sei noch eine halbe Stunde offen und den Eichenast empfehle sie herzlichst. Es gäbe auch einen Pizzakurier. Der Eichenast wäre zwar grundsätzlich zugänglich, aber die Leute sind grad in den Urlaub gefahren, und in der Zwischenzeit hat die Eisdiele auch zugemacht. Der Pizzakurier verspricht zu kommen, aber erst in anderthalb Stunden. Das ist nun halt mal so.
Dem Besitzer der Pension ist das alles etwas peinlich. Er leistet mir Gesellschaft und offeriert ein Bier, während ich auf den Kurier warte. Löbnitz sei ein richtiger Ferienort geworden, sagt er. Die Leute kommen mit dem Fahrrad, einige vom Thüringer Wald her oder sogar von Schweden und bleiben ein paar Tage. Die Pension sei recht gut belegt, sagt er. Auch wegen der Seen natürlich. Der Seelhausenersee ist etwa sechs Kilometer lang und ein bis zwei Kilometer breit. Ein Tagebau-Restsee. Ein Jahr nach der Wende ist der Abbau von Braunkohle eingestellt worden, dann kam der Rückbau und im Jahr 2000 begann man, das 30 bis 40 Meter tiefe Loch mit Wasser aus dem Fluss Mulde zu füllen. Man rechnete mit mehreren Jahren.«Und dann kam die Mulde», sagt er. Beim grossen Hochwasser 2002 schwoll sie an und füllte den See innerhalb von 36 Stunden. Seit Menschengedenken ist die Mulde nie derart über die Ufer getreten. Jetzt stehen rings um den See Ferienhäuschen, es hat Liegeplätze, Strände, das Wasser ist von bester Qualität. Ich verspreche auch ihm, morgen an den See zu gehen.