Am liebsten weg, am liebsten hier

Spur durch Deutschland, Leipzig, 1. August 2020. Musik, wo man hinhört in Leipzig. Bis gegen Mitternacht spielt jemand in der Nikolaikirche nebenan die Orgel, und als ich erwache, sind die Strassenmusiker bereits zugange. Touristen lassen sich in Gruppen durch die Stadt führen und die friedliche Revolution von 1989 erklären.

Eine Stadtführerin erzählt hinter der Nikolaikirche von der friedlichen Revolution 1989

Als ich bei einem Morgenkaffee vom Handy hochschaue, setzt sich eine Frau vis-à-vis an denselben Tisch, was man in Corona-Zeiten im Allgemeinen tunlichst unterlässt. Sie hat ein Paket auf ihrem Einkaufswagen festgebunden und will es nebenan dem Postboten, wie sie sagt, übergeben. Die Poststelle ist ihr zu weit entfernt und hier kommt der Postbote samstags um zehn Uhr und holt Sendungen aus dem Quartier ab. Aber es ist noch nicht zehn Uhr. Deshalb setzt sie sich mir gegenüber nieder und macht sich über all die Leute mit Handys und Notebooks lustig. Die Notebooks sind schuld, dass die Jungen nicht mehr rechnen können. In der DDR konnte man das noch. Nach der Wende führten sie die Notebooks und elektronischen Kassen hier in Leipzig auch ein. Sie hat in einem Warenhaus gearbeitet und fand das unnötig, weil sie gut war im Kopfrechnen.

Nun ist sie 81 und hat immer noch kein Handy. Sie telefoniert von zuhause, wenn es sein muss. Aber sie redet lieber mit den Leuten so wie früher. Der Westen hat nicht nur Gutes gebracht. Das Miteinander ist kaputt gegangen. Das Reden miteinander und das Lachen miteinander. Sie war 50, als hier rund um die Nikolaikirche die grossen Demonstrationen vor der Wende stattfanden. Doch, doch, sie war auch dabei, obwohl ihre Verwandten im Westen schon gestorben waren und ihr die Öffnung gar nichts mehr nützte. Sie hat das alles miterlebt und ist nicht mehr so sicher, ob es gut war. Es ist erstaunlich, wieviele Menschen ich in den neuen Bundesländern treffe, die mit diesen Zweifeln leben.

Auch diese Gruppe erfährt «alles» über die Wende

Dreissig Meter von unserem Tisch entfernt hat sich eine Touristengruppe um eine Stadtführerin geschart, die hinter der Nikolaikirche, wo sich der Widerstand gegen das DDR-Regime im Herbst 1989 aufbaute, in feurigen Worten den immer schneller wachsenden Unmut der Bevölkerung vor 31 Jahren beschreibt. Sie schildert den Betrug der SED-Führung bei den Kommunalwahlen, der die damals gespaltene Bevölkerung – jene, die in den Westen, und jene, die den Staat reformieren wollten – in ihrem Misstrauen gegen die Staatsmacht geeint und so den Umbruch im November ermöglicht habe.

Die Stadt Leipzig ist ein grosser Konzertsaal

Zwanzig Meter weiter erklärt ein junger Mann in ebenso engagierten Sätzen die gleiche Geschichte, einige Zuhörer sitzen auf dem Gehsteig, weil es schon heiss geworden ist in Leipzig, und unweit davon erzählt eine Frau die Geschichte der Wende auf englisch, irgendwo auf französisch – überall begegne ich Stadtführungen. Und Musikern. Akkordeon, Gitarren, Violinen, Geigen, Bratschen, Gesang und Saxophon. Die Stadt ist eine grosse Konzerthalle und ich muss sagen, es spielen nicht die untalentiertesten Musikerinnen und Musiker hier. Zwei Akkordeonspieler inszenieren eine Bachfuge vor der Thomaskirche, wo Johann Sebastian Kantor war. Es macht Freude zuzuhören, kein Lärm stört die Klänge in dieser verkehrsfreien Innenstadt ausser mal das Gezeter eines Betrunkenen.

Eine Familie erkennt im Nostalgie-Museum Gegenstände, die ihre Oma einst benutzte

Im DDR-Nostalgie-Museum trinke ich erst eine kommunistisch-deutsche Cola. Sie schmeckt ganz gut und die Frau, die zugleich das Museum beaufsichtigt, die Eintrittskarten verkauft und den Museums-Shop führt, versichert mir, dass es die beste Cola sei. Viel weniger Zucker drin. Sie hätten gesünder gelebt in der DDR. Die ausgestellten Objekte sind alles Alltagsgegenstände von damals: von Kleidern über Konserven, Küchengeräte, Schreibmaschinen bis zu Töff und Trabi. Mit mir besucht eine Familie die Räume – die Tochter recht punkig aufgebrezelt – und bestaunt fassungslos die Sammlung. Immer wieder höre ich: «Das hatte doch die Oma auch.»

Kabinettszimmer der DDR-Regierung

Das Zeitgeschichtliche Forum, eine staatlich finanzierte Stiftung, stellt die DDR unter dem Motto «Geschichte kann Ihnen erhebliche Denkanstösse zufügen» weniger verklärt dar. Zeitdokumente bezeugen, wie Grundeigentümer nach der sowjetischen Machtübernahme enteignet, innerhalb von 24 Stunden ausgewiesen wurden, wie kritische Stimmen zum Verstummen gebracht, Dissidenten erschossen wurden. Die Briefe eines Vaters, der sich bei den Behörden in den 70-er Jahren nach dem Verbleiben seines Sohnes erkundigte, der spurlos verschwunden blieb – sie erschüttern einen.

Der DDR-Alltag in den Plattenbauten, der Alltag, der den einen Privilegien gewährte, anderen den Intershop verwehrte, das Leben in den zugestandenen Drei- oder Vierraumwohnungen, das Versagen der Wirtschaftspolitik, der General, der 1989 noch behauptet, die Armee hätte keine Feinde gescheut, aber die ökonomisch unfähigen Politiker hätten das System zusammenbrechen lassen … Oder der Umgang der SED mit dissidenten Künstlern, die bei genügender Bekanntheit und unverbesserlicher Renitenz wie Wolf Biermann einfach nicht mehr ins Land gelassen wurden. Eindrücklich Biermanns Vers (1976): «Und was wird aus unseren Freunden, und was noch aus Dir, und mir? Ich möchte am liebsten weg sein und bleibe am liebsten hier.» Beeindruckend an der Dauerausstellung ist, wie wenig Missionarisches und Verbissenes sie hat. Sie zeigt, wie man sich auch in der Not immer irgendwie durchzuschlagen versuchte, sich – weil nur wenig Haushalte ein Telefon hatten – Telegramme geschrieben hat, die dann bei der Stasi hängenblieben: «lieber thomas du fehlst mir sehr vor allem weil meine ausweise in deiner tasche sind bitte komm abends unbedingt vorbei kuss annett».

Und dann die Wende: Die Begeisterung zuerst, dann die Ernüchterung. Der Westen, der die Richtung nun vorgab, zum Beispiek das Kalibergwerk Bischofferode schloss, weil es – wie man im Osten vermutet – eine Konkurrenz für die  Werke in den alten Bundesländern war. Viele andere Betriebe auch. Von einer Mark Aufbaugeld sollen 80 Pfennig wieder zurück in den Westen geflossen sein, Westler eigneten sich Besitz an. Vertrautes verschwindet, alte Symbole werden entfernt. Was bleibt, was ist ideologisch belastet?

Der «Weisheitszahn» – eines der Leipziger Wahrzeichen

Abends sitzen die Touristen in den Cafés und Restaurants, jeder Platz ist besetzt, die Stadtführerinnen und -führer haben fertig geredet. Ich lese in der Leipziger Volkszeitung, dass ein ansässiger Verlag ein sexy Skat-Blatt aus DDR-Zeiten in beschränkter Auflage neu auflegt. Leicht bekleidete Frauen in «knappen Bustiers» und «Busenblitzern» lächeln die Kartenspieler «verführerisch» an. Im Sportteil wird Waldemar Clerpinski interviewt, der 1980 im Marathon Gold für die DDR gewann. 126 Medaillen hatte der Arbeiter- und Bauernstaat damals aus Moskau heimgebracht und im Kommentar ärgert sich der Sportredaktor über die Miesmacher, die die Erfolge allein dem Doping zuschreiben: «Um Olympiasieger oder Medaillengewinner zu werden, brauchte jeder aber viel mehr als nur Doping.» Die Nostalgie nach dieser DDR, die für viele ein brutaler Unrechtsstaat war, begegnet mir immer wieder hier. Der Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, wird in der heutigen Ausgabe der Volkszeitung auch interviewt, weil er sich in seinem neuen Buch «Empowerment Ost: Wie wir zusammenwachsen» dagegen wehrt, dass das Ostdeutsche etwas Zweitklassiges sei. Es brauche ein neues Selbstbewusstsein. Schliesslich sei der Osten nicht vom Westen befreit worden, die Bevölkerung habe ihre Fesseln selbst gesprengt.

Die Geschichte der DDR ist noch lange nicht aufgearbeitet, dünkt mich, während ich die Touristen hier durch die Shopping-Strassen gehen sehe.

 

 

 

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