Spur durch Deutschland, Linthe – Seddiner See, 6. August 2020. Allmählich führen fast alle Strassen nach Berlin, aber die Fusswege laufen quer dazu, so dass ich oft über Wiesen wandern muss bis zum Seddiner See. Dort treibt sich dem Vernehmen nach ein Wolf um. Vom See sehe ich wenig und so verziehe ich mich in den Fuchsbau.
Der Wirt im Gasthof von Linthe ist wenig hilfreich mit seinen Tipps, wie man am besten zum Seddiner See wandere. Er würde der Strasse folgen, das sei der sicherste Weg. Falls er je dorthin gehe, tue er das mit dem Auto. Und seine Frau, die gestern Abend bedient hat und deren Familie den Gasthof seit 1937 in vierter Generation führt, kommt erst später. Sie wüsste vielleicht einen Fussweg.
Auf seine Frau mag ich nicht warten, kaufe mir sehr viel Wasser im «Dorfladen», der beim Autobahnkreuz steht, dreihundert Parkplätze hat und alles bietet, was auf einem Einkaufszettel vorstellbar ist. Die Sonne brennt schon am Vormittag gnadenlos. Auf Feldwegen in direkter Richtung nach Berlin zu wandern, ist unmöglich, da sie quer zu dieser Richtung verlaufen. So biege ich immer wieder ab, um einen parallel verlaufenden Feldweg zu erreichen, durch Wiesen, die vor kurzem gemäht worden sind. Doch das hat seine Tücken.
Es ist eine Moorlandschaft, die ich durchwandere und da ziehen sich immer wieder Entwässerungsgräben durch. Auch wenn die Wiesen und Felder trocken sind wie nur etwas, so steht in diesen Gräben doch braunes Wasser, eine Brühe eher, mit vielen seltsamen Lebewesen drin. Die Gräben sind gerade so breit, dass ich nicht drüber zu springen wage. Mit anderen Worten: So richtig voran komme ich nicht.
In Schlalach sitze ich an der Kreuzung, an der die Strasse der Einheit in die Strasse des Aufbaus mündet, auf einer Ruhebank vor dem alten Schulhaus, dessen Fassade pittoresk bröckelt und frage eine vorbeigehende Frau nach dem Weg Richtung Beelitz. Sie erzählt mir ganz begeistert vom Mühlebach, der einst eine Papierfabrik im Ort angetrieben habe. Dem Mühlebach folge ein Fusspfad, der mich bis nach Berlin führe. Das ist dann zwar nicht ganz so. Die Frau klagt über die missratene Spargelernte. Nicht weil die Spargeln nicht gewachsen wären, sondern weil die Polen wegen Corona nicht hätten einreisen dürfen, um sie zu ernten. Ich sage ihr, dass dieses Problem auch die Bauern in der Schweiz beschäftigt habe, aber das kann sie fast nicht glauben. So weit gehen die Polen nicht, sagt sie.
Auch die Spargelfelder erstrecken sich hier in unglaublich grossen Dimensionen. Der Boden ist wohl ideal – sandig, nein, bei dieser Trockenheit ist es sogar reiner, feiner Sand, der hier die Erde bedeckt. Zeitweise dünkt mich, ich wandere durch Dünen, durch eine Wüste, meine Tritte werfen kleine Sandwolken auf. In Beelitz will ich neben einem schiefen Gewerbeschuppen einen von drei dort stehenden Plastikstühlen so hinrücken, dass ich mich draufsetzen kann, doch da kommt eine kräftige Frau, gut vierzig Jahre alt, um die Ecke, stösst den Zigarettenrauch durch die Nase und sagt: «Nee, junger Mann, das ist für uns. Dort drüben können Sie sich hinsetzen.» Das mit dem ‘jungen Mann’ hat mir schon geschmeichelt, aber der Ton war scharf.
Der Weg zum Seddiner See geht bei Beelitz erst der Berliner Strasse entlang, bei der Weinbergstrasse biege ich ab, laufe über einen sandigen Weg in einen Fichtenwald und trete auf eine Lichtung, die ein Trainingsgelände für Hunde ist. Das sehe ich sofort: eine Hundeschule. Und das gefällt mir nicht, denn das grosse Tor ist offen. Aber es regt sich nichts, ich gehe weiter und erspähe dann doch einen Hund. Einen ziemlich grossen. Aber er ist kein Schäferhund oder so, eher etwas langhaarig. Daneben dann ein Mann. Ein grosser Mann. Je näher ich komme, desto grösser wirkt er. So einer muss einen grossen Hund haben, ist klar. Eine Riese ist das, der dort steht, in rotem Hemd und Shorts. Er lässt mich näherkommen, den Hund scheine ich nicht zu interessieren, aber den Mann schon. «Ein Wanderer!» ruft er, als ob es das hier nicht gäbe.
Er ist fast einen Kopf grösser als ich, hat schwarze Haare und sagt, er sei Rentner. Er weist mich an, zurückzugehen, woher ich komme, den dort durch gelange man zum Seddiner See. Dort sei die Strasse. Ich sage, dass ich als Wanderer lieber durch den Wald als der Autostrasse entlang gehe. Er gehe nicht durch den Wald, denn dort habe es einen Wolf. Kürzlich habe der eine Wildsau gerissen, ihr das Fell über die Brust herunter gezogen, und später war sie ganz weg. Dasselbe wenig später mit einem Reh. Hier, wo er dann doch mit mir durchgeht, habe früher eine LPG, eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, Schafe gezüchtet. Jetzt rechne sich das nicht mehr. Heute rechnet sich nur noch Pferdehaltung. Für die Berliner, die sich ein Pferd leisten können. Der Einfluss von Berlin auf die Gegend sei enorm, sagt er. Die Grundstückpreise steigen jedes Jahr um fünf Prozent.
Der dürre Wald macht ihm Sorgen. Gegen die Trockenheit ist Corona ein Klacks. Überall verdorrte Bäume, in drei Jahren sind alle tot. Wir gehen quer durch den Wald, übers Moos, über dürre Äste. «Hören Sie es?» fragt er. «Das Moos knistert, wenn man drauf tritt. Das ist doch nicht normal.» Er wünscht mir gute Reise und schimpft mit dem Hund, weil er den Gummiball verloren hat.
Der Seddiner See ist eine Enttäuschung. Nicht weil er hässlich wäre. Überhaupt nicht. Aber er ist zumindest auf dieser Seite, an der ich ihn erreiche, unzugänglich. Eine Privatgrundstück steht neben dem anderen. Beim Café «Seeblick» kann man tatsächlich durch eine Zufahrt hindurch einen Blick aufs Wasser erhaschen. Allerdings ist das Café geschlossen. Der Gasthof «Linde» ebenfalls. Im seinem Garten dreht ein Rasenmäher-Roboter auf dürrem Gras seine nicht nachvollziehbaren Kreise.
So suche ich frühzeitig den Fuchsbau auf, eine Pension für Monteure. Das Zimmer mit Dusche und Toilette kostet keine dreissig Euro. Eine Küche steht zur Verfügung. Das Bier muss man selbst mitbringen. Man stellt es im Kühlschrank in eine Plastiktruhe mit der Zimmernummer drauf. Drei Monteure stehen an der Rezeption vor mir, und das Einchecken dauert so seine Zeit. Man kann sie sich vertreiben, indem man die Kalender an den Wänden anschaut. Lokomotiven auf dem einen, Lastwagen auf einem anderen und auf dem dritten – naja: Frauen. Die Anmeldeformalitäten schleppen sich so vor sich hin, weil die Frau hinter dem Schalter am Morgen beim Anziehen möglicherweise eines ihrer Kleidungsstücke zuhause auf der Kommode hat liegen lassen. Sie bietet jedenfalls einen An- und Einblick, der für die vor mir stehenden Männern ewig anhalten könnte und sie zu immer neuen Fragen bezüglich Zimmermiete, Schlüssel, Codes und weiterem inspiriert. Als dann einer tolldreist fragt, ob sie ihm das Zimmer nicht persönlich zeigen möge, finden das alle so lustig, dass sogar sie zu einem kurzen Lächeln ansetzt.
Der Fuchsbau liegt überhaupt nicht zentral, die nächste Gaststätte ist zu Fuss schier unerreichbar, der «Nahkauf» ist in einer Viertelstunde dagegen gut erreichbar und man fühlt sich wohl hier in den Containern. Und sicher ebenfalls: Eine hoher Zaun umgibt das Gelände, abgesichert mit Nato-Stacheldraht, und wer es betreten will, braucht einen Code. Den verrate ich natürlich nicht.
Bevor ich das Licht lösche, google ich noch die Geschichte mit dem Wolf. Tatsächlich: Hier treibt sich einer rum. Er wurde verschiedentlich gesichtet.