Spur durch Deutschland, Donauwörth – Langenaltheim, 9. Juli 2020. Eine Kaserne wird zur städtebaulichen Konversion, hinter den hohen Mauern in Kaisheim sitzen schwere Jungs und auf den Feldern arbeiten Osteuropäerinnen in der prallen Sonne. Viele Dorfnamen enden auf «-heim», auch Langenaltheim, wo der achtjährige Sohn der Rosen-Wirtin mithelfen müsste.
Vor Jahren habe ich mich gegen das Verbot von Minaretten im Schweizerland engagiert und ich würde es heute noch tun. Hätte mir heute Morgen aber jemand einen Unterschriftenbogen hingelegt mit der Forderung, Kirchenglocken zumindest nachts aus dem Verkehr zu ziehen – ich hätte ganz dick unterzeichnet. Die Glocken des Donauwörther Münsters schlagen jede Viertelstunde und zur vollen Stunde geben sie noch ein paar Schläge drauf. Und zwar laut. Eine Strassenbreite neben meinem Bett. Das ist Folter.
Der Wirt vom Goldenen Hirsch lacht und sagt, das gehöre dazu. Zum Hirsch. An den Frühstückstischen sitzen Motorradfahrer. Sie finden das Hotel gut. Die Preise reell. Einer bringt den Satz vom Preis-Leistungs-Verhältnis. Es sei okay. Nicht mal ein Fufzger. Mit Frühstück. Donauwörth ist ihr erster Etappenhalt. Kleine Rundreise. Nichts Grossartiges. Südtirol zuerst und dann Ischgl… naja. Man sieht. Ein Motorradfahrer sitzt allein an einem Tisch, scrollt auf dem Handy rum und dann kommt eine kräftige, blonde Frau, mit praktischer Pagenfrisur, setzt sich zu ihm hin, und ich höre, dass sie zur gleichen Motorradgruppe gehören. Er kommt von weit her, hat hier übernachtet, trifft sie zu einem Kaffee, dann fährt er los. Sie arbeitet in einer der hiesigen Bäckereien und hat heute schon 22 Kuchen gebacken.
Wenige Meter hinter dem Hotel steigt der Weg Richtung Norden steil an. Es wundert mich nicht, denn die Donau biegt hier langsam nach Osten ab, und das muss einen Grund haben – und der Grund ist wohl dieser Hügelzug, auf den ich nun hinaufwandern muss. Dort erneuert Donauwürth sein öffentliches Schwimmbad und unmittelbar oberhalb umgibt ein zwei Meter hoher Zaun mit Stacheldrahtkranz ein verwildertes Gelände, auf dem viele längliche Gebäude stehen. Hier war eine Kaserne. Sie steht noch, aber drinnen ist kein Soldat. Am geschlossenen Eingangstor, wo einst die Hauptwache stand und sich jetzt Spinnweben im Wind wiegen, ist zu lesen, dass hier eine städtebauliche Konversion geplant ist: Die ehemalige Alfred-Delp-Kaserne wird ein neues, innovatives Wohnquartier mit unterschiedlichsten Wohnformen vom Einfamilienhaus an aufwärts bis zu Wohnblocks.
Das Gelände liegt noch brach, es scheint noch kein Bagger aufgefahren zu sein. Nach der Kaserne folgen mehrere Mehrfamilienhäuser des städtischen Wohnhilfswerks, also Sozialwohnungen, und dort erzählt mir eine Frau, dass es mit dem Kasernenumbau nicht vorangegangen sei, weil bis Ende des letzten Jahres Flüchtlinge einquartiert gewesen seien. Nun sind sie weg, sie weiss auch nicht wohin. Die Frau redet allerdings nicht von Flüchtlingen, sondern von «diesen Asylanten».
Ich spaziere dann durch Wälder, meistens aufwärts, weil die Donau – wie gesagt – einen Grund hatte, hier Richtung Passau abzubiegen, und stehe plötzlich oberhalb von Kaisheim. Eine mächtige Kirche und ein ausuferndes Kloster um diese Kirche herum. Zwei, drei grosse Weiher. Sieht aus, als wäre hier die Zeit vor hundertzwanzig Jahren stehengeblieben. In dieses Dorf muss ich runtersteigen, um nachher wieder auf den nächsten Hügel zu wandern. Die Mauer um das Kloster ist sehr hoch, an der einen Ecke scheint sogar ein Wachtturm zu stehen. Ein uniformierter Mann mit einem Haarschwänzchen, das hinten durch die Mütze guckt, führt einen Dackel der Mauer entlang. Ein Wegmacher sagt mir, dass hinter dieser Mauer eine JVA sei, eine Justizvollzugsanstalt. Ein Knast. Ein Knast für schwere Jungs, sagt er.
In Buchdorf mache ich Mittagsrast, trinke Wasser und sehe, wie sich Vorhänge bewegen. Leute gucken, wer da auf der Ruhebank sitzt. Die Strassen sind menschenleer. Die Landschaft ist hügelig, wellig. Man steigt auf eine Anhöhe, dann hinunter, manchmal durch Wälder, oft aber erstrecken sich in einer weiten Geländedelle wieder die endlosen Getreidefelder. Manchmal wächst Gemüse. Kohl zum Beispiel. Auf einer dieser Flächen entdecke ich, wie schon am Morgen an einem anderen Ort, weisse, farbige Punkt, die sich langsam bewegen. Menschen bei der Feldarbeit.
Sechs Frauen und ein Mann hacken Unkraut auf einem Schnittlauchacker, der vierhundert Meter lang und zweihundert Meter breit ist. «Bio» sagt die eine der Frauen. Sie kommt aus der Ukraine, dieses Jahr wegen der Pandemie später als sonst, und nun gibt’s viel Arbeit. Schwere Arbeit, sagt sie. Weil der Schnittlauch Bio ist, kein Gift. Alles von Hand. In dieser Sonne und zwar den ganzen Tag. Wenn der Schnittlauch gut gewachsen ist, ernten sie ihn, und die Firma Fuchs holt ihn ab. Er wird getrocknet und dann verkauft. Sie jäten auch Kohl. Auch anderes Gemüse, den ganzen Sommer lang. «Wir hier», sagt sie, «sind Ukraine, Rumänien, Polen. Geht gut, kein Krach.»
Irgendwann verlaufe ich mich. Habe zu lange dem Trott meines Schritts gelauscht, bin Gedanken nachgehangen, habe nicht aufs Handy geschaut. Wieder dieses Bild: Auch hier wird es vor 120 Jahren nicht viel anders ausgesehen haben. Immer wieder tauchen kleine Dörfer auf, eher Weiler, einige mit Kirche oder Kapelle, andere nicht. Nur wenig Menschen wohnen da, es ist still, ruhig. Ganz selten fährt ein Auto. Ebenso selten tropft ein Brunnen, um die Wasserflasche zu füllen, Friedhöfe gibt es gar nicht. Um Wasser muss man betteln, wenn man denn jemanden findet. Ein junger Bauer in Kölburg, der seinen Mähdrescher für die ersten Einsätze nächste Woche bereit macht, füllt mir die Flasche.
In Langenaltheim finde ich ein Zimmer in der «Rose». Es ist ein schöner Abend. Die junge Wirtin hat alle Hände voll zu tun, gegen 40 Leute sitzen in der Gartenwirtschaft. Mit so vielen Leuten hat sie nicht gerechnet. Nebenan auf dem Bauernhof spielen und lachen und streiten ein paar Kinder. Plötzlich ruft die Wirtin einen der Buben heran. Es ist ihr Sohn, etwa acht Jahre alt und sie sagt: «Nun musst du ran.» Er muss Besteck verteilen, doch das Spiel mit den anderen Kindern lockt ihn zu sehr. Er rennt wieder hin, bis ihn die Mutter erneut ruft. Nun kommt auch der kleine Bruder. Er will helfen, stolpert und verteilt Gabeln und Messer auf Treppe und Boden. Das Essen ist sehr gut.