Spur durch Deutschland, Bad Staffelstein – Coburg, 19. Juli 2020. Am Main steigen die Leute in Gummiboote und lassen sich flussabwärts treiben. Eine tänzelnde Dame löst Gedanken über Schönheitsideale und über den Maler Botero aus, bis mich die Dolendeckel in Coburg – oder Gullydeckel, wie man hier sagt – etwas irritieren.
Der Weg nach Coburg, wo ich hinwandern will, führt erst an Weizenfeldern vorbei und danach in die Hügel, die bereits zu den Ausläufern des Thüringer Walds gehören. Der Weg ist mit einer schönen Schicht Kies bedeckt, was mir gefällt, den Radlerinnen und Radler aber nicht. Auch wenn sie E-Bikes fahren, nützt das auf diesen Routen wenig, weil in dieser Gegend auf den Sätteln im allgemeinen Personen sitzen, die die Pneus kraft ihres Körpergewichts tief in den Kies drücken.
Man legt hier Wert darauf, dass die Wege einen Sinn haben. So wechseln sich Keltenwege mit Sagenwegen und Pilgerwegen ab, und sogar ein Planetenweg kommt im Lauf des Tages dazu. Eine Weile spaziere ich auf einem Pfad, der ohne höhere Bedeutung ist, dem jungen Main entlang. Nach Rhein, Isar, Donau jetzt auch der Main. Unter einer Brücke parken unzählige Autos und es herrscht grosser Betrieb. Männer holen Kanus von den Autodächern herunter, andere blasen Gummiboote auf oder auch nur Luftmatratzen. Eltern mit Kindern und Grossvätern machen sich zur Bootsfahrt bereit und jemand sagt mir, man könne sich bis Bamberg treiben lassen, wenn man genug Zeit habe.
Dann ist aber Schluss mit Rumschwatzen. Ich steige in einen dieser Thüringer-Wald-Ausläufer hinein, es geht aufwärts, die Sonne wärmt sehr, die Häuser werden spärlicher und Menschen sehe ich keine mehr. Eine Weile lang wandere ich auf einer schmalen Teerstrasse Richtung Altenbanz, keine Autos hier, nur in regelmässigen Abständen gefüllte Haushalt-Kehrichtsäcke. Da macht sich’s jemand einfach – fährt in seinem Wagen gepflegt auf einer feinen Strasse in den Wald, um seinen Grümpel loszuwerden.
Die Weite auf der Höhe wirkt endlos, Hügelzug nach Hügelzug verliert sich am Horizont, Kirchtürme gucken aus Geländedellen, Wälder verlieren sich im dunstigen Blau. Ein Mann in einem allein gelegenen Haus füllt mir die Wasserflaschen und ich strecke mich an einem Waldrand aus. Kein Wind geht, die Weizenhalme, sogar die Gräser stehen reglos da wie auf einer Photographie, die Windräder ruhen in sich selbst. Die Wolken kleben am Himmel, als hätte sie eine Schulklasse hin geleimt. Das einzige, was sich bewegt, sind Mücken und zwischendurch ein flattriger Schmetterling.
Beim Weiterwandern überquere ich eine ICE-Strecke, die nicht in diese verschlafene Landschaft passt, aber Ingenieure können nun auch nicht auf alles Rücksicht nehmen. Je kleiner die Dörfer, desto intensiver der Geruch nach Gülle. Es muss hier einige Schweinezüchter haben, da und dort hängt der bissige Gestank arg in der Luft, und einmal gehe ich an einem Gebäude vorbei, wo der Zutritt verboten ist: «Wertvoller Schweinebestand.»
Ein Rentnerpaar sitzt auf einer Ruhebank, die Walking-Stöcke ordentlich zwischen den Beinen ruhend und erzählt, sie seien aus Nordrhein-Westfalen und kämen jedes Jahr im Urlaub hierher, weil man hier so schön wandern und radfahren könne und in Bad Staffelstein ein so schönes Thermalbad stehe. Sie meinen dasselbe, in dem ich am Abend zuvor auch war und wo sich die kräftig gebauten Staffelsteiner Zukunftshoffnungen mit Bier haben volllaufen lassen.
Im nächsten Dorf rieche ich den Duft von gebratenen Würsten und Koteletts und da und dort sehe ich, wie üppige Fränkinnen und Franken in Gartenstühlen hängen. In einem Dorf, das Untersiemau heisst, stehen junge Frauen und Männer in einem Biergarten. Alle im balzenden Alter, alle sozusagen auf dem Brautmarkt oder dem Markt der Bräutigame. Abba-Musik läuft und zwei Frauen tänzeln so vor sich hin. Man könnte sagen: irgendwie anmutig, aber halt eben doch ein bisschen massig, weil da viel Material mitschwingt. Die eine der Frauen hat’s auf einen ganz bestimmten Kerl abgesehen und diesem gefällt der Flirt ganz gut, ein bisschen wippt er mit, aber in der einen Hand hält er die Zigarette und in der anderen ein volles Glas Bier. Und ohnehin schwingt auch beim ihm viel mit. Bei allen Leuten in diesem Biergarten, auch bei vielen, die mit dem Rad unterwegs sind oder im Auto vorbeifahren, muss so vieles mit.
Die Bilder vom Thermalbad kommen mir wieder in den Sinn und ich denke darüber nach, warum die Leute hier auf dem Land so ganz anders gebaut sind als in der Stadt, in Bamberg zum Beispiel. Wie ich weiterwandere, dünkt mich, ich sehe überhaupt nur noch Leute, wie sie Botero gemalt hat, der spanische Künstler der Beleibtheiten. Hat es den mal hierher verschlagen? Hat er sein Schönheitsideal auf dem fränkischen Land entdeckt, wo es Bier, Bier, Bier gibt und Schnitzel, Schnitzel, Schnitzel, Pommes, Pommes und das in reichlichen Mengen. Und weil so viele junge Leute derartige Boteros sind, fällt einer auch nicht auf und vielleicht gehören diese Masse hier zum Schönheitsideal.
Das sind halt so Gedanken, die sich drehen, wenn man durch flache Landschaften wandert und dann durch Industrie- und Gewerbeareal, kilometerweit, bis sich plötzlich die Altstadt Coburgs auftut – eine überraschend prunkvolle Stadt, mit strengen Renaissancebauten, die zwar bunt bemalt und kunstvoll verziert sind, aber fast etwas bedrohlich wirken. Coburg hat eine bewegte Geschichte, kulturell mit dem Landestheater, politisch als erste Stadt Deutschlands, in der die Nazis sich die absolute Mehrheit sicherten und die Hitler als erste zum Ehrenbürger machte, eine Nazi-Hochburg. Heute hat die SPD die Mehrheit, obwohl sie bei den Wahlen im März verloren hat. Und während ich gedankenverloren durch die Gassen spaziere, halte ich beim Blick auf einen der vielen Schachtdeckel plötzlich inne: Da liegt ein Schwarzer! Auf jedem Dolendeckel der gleiche. Und dann erfahre ich, dass der Heilige Mauritius Coburgs Stadtpatron ist , der seit dem Hochmittelalter im Erscheinungsbild eines Schwarzafrikaners verehrt wird. Auf dem Coburger Wappen und auch auf den Schachtdeckeln.
Coburg wird auf meiner Wanderung die letzte Stadt in Bayern sein, fast einen Monat lang bin ich durch den Freistaat spaziert. Morgen werde ich die Grenze nach Thüringen überschreiten und «ein neues Bundesland» betreten, wie sie hier sagen. Die Sonne wird für mich in den nächsten Tagen im Osten auf- und untergehen.