Spur durch Deutschland, Ruderatshofen – Schongau, 26. Juni 2020. Die Menschen im Oberallgäu und erst recht jene im Ostallgäu sind wortkarg und wahrscheinlich ziemlich fromm. Diesen Freitag haben sie allerdings nicht dazu erkoren, Busse zu tun, sondern sie bringen – sofern sie Bauern sind – Gülle aus.
Die Autokennzeichen haben gewechselt von OA zu OAL. OA ist Oberallgäu, OAL Ostallgäu. Der Unterschied vom OA-Landkreis zum OAL-Landkreis scheint mir, dass die Leute noch weniger reden. Sie schauen hin, denken etwas, was man nicht unbedingt nachvollziehen kann oder muss, und sagen «Ja» oder «Nein» oder «Servus».
Den Regenschutz habe ich zuoberst im Rucksack versorgt, es sind Schauer angesagt im Ostallgäu, und über den bayrischen Alpen scheint schon richtig was los zu sein. Nirgends kann ich den direkten Weg nehmen, sonst würde ich der Autostrasse entlang wandern müssen, und das ist unangenehm wegen des Lärms, des Teerbelags, auch ein bisschen gefährlich und die Autofahrer schütteln den Kopf. Ich wandere auf einem Feldweg Richtung Immenhofen, aber doch nicht ganz ins Dorf hinein, dann nach Ebenhofen, aber auch wieder nicht ganz hinein, und neben einer Scheune, wo ein Bänklein steht, weil man eine gute Aussicht hat, steht eine Panoramatafel. Hier sehe ich nun die ganze Pracht der bayrischen Alpengipfel, einer heisst etwas mit «Daumen», einer «Säuling» und dann natürlich die Zugspitze. Man hat von diesem Berg in der Schule gehört, weil er mit seinen fast dreitausend Metern der höchste Deutschlands ist – und nun sehe ich diese Zugspitze vor mir!
Es kommen bald Wolken auf und ich sehe die Zugspitze nicht mehr. Die Luft ist rein und würzig. Sehr würzig sogar. Wo ich hinschaue, schleppen die Traktoren, die gestern noch Heu gemadelt haben, kolossale Güllewagen über die Felder und düngen. An einem Hof, auf dem viel Gerümpel lagert, steckt ein riesiger Mixer im Gülleloch und mischt die Brühe auf. Dieser Duft bleibt lange in der Nase hängen. Ich gelange nach Berndorf und schaue einem Bauern zu, wie er seinen Jauchewagen kunstvoll vor der Güllegrube parkt. Ich ziehe ihm ein paar Satzfetzen aus der Nase und erfahre ungefähr folgendes: Es war auf heute schlechtes Wetter angekündigt, weshalb man auf Teufel komm raus das ohnehin schon verspätete Heu eingebracht hat bis gestern. Und die Güllelöcher sind voll, weshalb man jetzt, obwohl es vor einem Regen nicht sinnvoll sei, das Zeug auszubringen, es dennoch tun muss. Ob man will oder nicht. Freitag hin oder her, die Jauche muss aud die friach gemähten Wiesen. «Freitag ist Busstag», sagt er und mich dünkt, ich sehe ein Lächeln in den Mundwinkeln.
Unterdessen donnert es drüben bei der Zugspitze und wie! Windstösse fegen übers Land, dass es einen schaudert. In einem Klappstuhl unter einem alleinstehenden Baum sitzt, respektive hängt ein betagter Mann in Schräglage, und ich weiss nicht, ob es gut ist, bei drohenden Blitzeinschlägen jemanden unter einem Baum sitzen zu lassen. Er reagiert nicht auf meine Fragen. Dann sehe ich weiter vorn eine Frau, die Holunder pflückt. Sie ist auch schon älter und sagt – wenn ich das richtig verstanden habe –, dass sie ihren Vater etwas zum Lüften rausgestellt habe. Ein paar Meter weiter steht ihr Auto, dessen Kofferraum voller Holunder ist.
Die Zugspitze ist mitsamt dem ganzen Panorama längst im dunklen Grau verschwunden. Es wetterleuchtet und donnert. Ich denke über den Bauern nach und seinen Satz mit der Busse, frage mich, wie ernst man solche Sachen hier nimmt. Fromm scheinen die Leute schon zu sein. Überall stehen Wegkreuze mit unterschiedlichen Sprüchen. Gott soll die Flure schützen. Manchmal die Fluhre. Und auch die Wanderer: «Gott segne Flur, Wald, Wild und die Wandersleut’» und ein weiterer für unsereiner: «Wanderer halt ein, schau auf zum Kreuz, es zeigt den Steg zum Glück auf gefährlichem Lebensweg». So, genug jetzt. Einige reimen. Ein Kreuz bleibt mir in Erinnerung, weil neben dem Heiland auch eine Zange und ein Hammer dranhängen.
Nicht nur fromme Sprüche zieren meinen Weg. Auch Sagen-Tafeln. Von Hexen ist die Rede, von einem Pudel, der die Leute in den Wäldern auf falsche Fährten bringt, von einem Pferd, das eine Kapelle gebaut hat, von roten Reitern, von einem reitenden Skelett, von einem Schweden, der im Dreissigjährigen Krieg so gewütet hat, dass er nicht zur Ruhe kommt – und etwas fällt mir auf: In vielen dieser Sagen geistern Verstorbene ohne Kopf herum. Und ich erinnere mich an die Skulptur eines Bildhauers, die ich vor einem oder zwei Tagen gesehen habe: Eine Menschengruppe mit einer Person ohne Kopf. War das ein Zufall?
Das Gewitter verschont mich, es wird wieder schön, im Dorfladen in Erbenschwang erhält man in der Fleischabteilung einen sehr feinen Eiskaffee und vor lauter Sagentafeln und Wegkreuzen komme ich erst sehr spät in Schongau an. Der alte Teil des Städtchens steht auf einem Hügel, vier Längs- und etwa fünf Quergassen, gesäumt von vielen ehemaligen zwei- und dreistöckigen Lagerhäusern (Schongau liegt an der seit römischer Zeit wichtigen Handelsstrasse Venedig – Augsburg), auch prunkvolleren Bauten, die allerdings im Vergleich etwa zu Kempten sehr bescheiden wirken. Die Leute sitzen vor den Gasthäusern und Bars. Im Ballenhaus, einem ehemaligen Lagerhaus im Zentrum, übt bei offenem Fenstern eine bayrische Blaskapelle.
Solltest du diesem Kumpel begegnen, ist etwas schief gelaufen:
Legendärer Landstreicher
Ein zäher Bursche
USA im 19. Jahrhundert: Ein mysteriöser Mann wandert immer wieder die 365 Meilen zwischen New York und Connecticut – und wird durch Zeitungsberichte bekannt. Die Geschichte des „alten Ledermanns“. von Caroline Werthman
Alles an ihm war aus Leder. Hose, Mantel, Schuhe, Hut, Rucksack. Nie wechselte er die Kleidung. Hätte er es getan, hieße er nicht „der alte Ledermann“. Unter diesem Namen wurde er bekannt, jener Vagabund, der im 19. Jahrhundert zwischen den US-Bundesstaaten New York und Connecticut hin- und herwanderte. 30 Jahre soll er unterwegs gewesen sein, mindestens sechs davon auf der immer gleichen Route. Er lief 365 Meilen im Uhrzeigersinn. Alle 34 Tage erreichte er dieselben Orte, Danbury, New Fairfield, Watertown, Westchester, wieder Danbury. Er war so pünktlich, dass jede Unpünktlichkeit eine Nachricht wert war. Die Presse schrieb gern über ihn, und Kinder rannten aus der Schule, um einen Blick auf den Ledermann bei der Durchreise zu erhaschen. Seine Identität blieb ein Rätsel. Im August 1869 berichtete das Port Chester Journal über einen Mann im zerfledderten Lederanzug, der seit Längerem damit auffiel, allein auf Wanderschaft zu sein. Er schlief in Höhlen, aß Beeren, ging und kehrte wieder. „Der armen Kreatur“, stand in der Zeitung, könne man nur Glück wünschen in ihrer Einsamkeit. Es folgten Berichte in der Bristol Press, im Connecticut Valley Advertiser, Waterbury Daily American, in der New York Times. Bis zum Tod des Ledermanns 1889 wuchs ein immenses Repertoire an Texten, das der Amerikaner Dan W. DeLuca 2008 in einer Publikation mit dem Titel „The Old Leather Man“ bündelte. „Old“ oder „Alt“ sind im Grunde irreführende Worte: Der Ledermann war etwa 50, als er starb.
Wilde Theorien
Den Aufzeichnungen zufolge wirkte er so, als sei seine Wanderung das lebenswichtigste Unternehmen der Welt, als ginge es um Leben oder Tod, sein Ziel, was immer das auch sein mochte, zum vorgesehenen Zeitpunkt zu erreichen. Er war friedlich und sprach nicht viel, und wenn, dann einzelne Silben auf Französisch und Englisch, was die Leute nur noch mehr faszinierte. Der Ledermann war wie eine real gewordene Märchenfigur. Mancher assoziierte den Ledermann mit der Figur des Ewigen Juden aus christlichen Volkssagen, auf immer zur Rastlosigkeit verdammt, um Sühne für vergangene Sünden zu leisten. Ein wenig Sühne steckt in der Tat in einer der Theorien, die seine Herkunft begründen soll. Das Schöne: Die Theorie ist eine Liebesgeschichte. Das Schlechte: Es gibt kein Happy End. Noch schlechter: Das Ganze ist nicht mal wahr – aber zu wunderbar tragisch, um es zu ignorieren. Sein Name soll Jules Bourglay gewesen sein. Er kam aus dem französischen Lyon und hatte sich in die Tochter eines wohlhabenden Lederhändlers verliebt. Doch Heiraten war ein kompliziertes Vorhaben unter den Argusaugen des Vaters. Jules Bourglay müsse sich erst als Ehrenmann beweisen, die Gunst seiner Tochter und den Segen des Schwiegervaters in spe verdienen. So übergab der Vater sein Geschäft temporär in die Hände des jungen Mannes. Sollten ihm florierende Abwicklungen gelingen, stünde einer Hochzeit nichts im Wege. Eine Zeitlang ging das gut, Bourglay wirtschaftete tüchtig. Dann investierte er übermütig in neue Lederware. Dann stürzten die Preise. Dann stürzte er. Der Schwiegervater, der nie ein Schwiegervater werden würde, verstieß ihn. Jules Bourglay floh nach Amerika, wo er sich fortan eingewickelt im Stoff des Unglücks Schritt für Schritt für sein Scheitern bestrafte. Im Rucksack des Ledermanns fand man später neben einer Pfeife, einem Beil und Klappmessern ein französischsprachiges Gebetsbuch. Selbst wenn er nicht Jules Bourglay war, so musste er doch Franzose sein. Obwohl die Beweise mickrig waren, brachte man einige Jahre nach seinem Tod auf einem Grab auf dem Sparta Cemetery in Ossining, New York, den Namen Jules Bourglay an. Inzwischen wurde das Grab verlegt und der falsche Name ersetzt. Heute stehen dort zwei andere Wörter geschrieben: The Leatherman. Anonym zwar, aber immerhin kein Märchen.
30 Kilogramm schwere Lederkutte
Im September 1888 verspätete er sich. Ein Schneesturm wütete. Aus den üblichen 34 Tagen wurden 36. Dem Ledermann ging es schlecht. Unter seinem Kinn schwoll ein Geschwür so groß wie eine Orange. Krebs zerfraß seine Lippen. Der Brewster Standard zitierte einen Arzt, der den Wanderer sah. Es sei nur eine Frage der Zeit, sagte dieser, bis die Reise des Ledermanns ein Ende haben werde. Die Bristol Week Press schrieb, der Ledermann könne nur noch essen, was zuvor in Kaffee getunkt wurde, doch selbst das Kauen weicher Kost schmerzte so sehr, dass Tränen seine Wange hinabliefen. „The Old Leather Man Dead – Der Alte Ledermann ist tot“, titelte am 25. März 1889 die New York Times. Man fand ihn in einer Höhle in der Kleinstadt Mount Pleasant. Sein lederner Anzug, mehr Kunstwerk als Kleidung und etwa 60 Pfund schwer, wanderte nicht unter die Erde, sondern an die Besitzer des Meehan & Wilson’s Globe Museum in New York und das Eden Wax Musée auf Coney Island. Dort brach 1928 allerdings ein Feuer aus. Die Kleider verbrannten in den Flammen. Vielleicht war dieser ewig Wandernde alles, nur kein Suchender. Weder auf der Suche nach sich selbst noch nach etwas anderem, weder nach Erlösung begangener Sünden noch nach einer Bewältigung verlorener Lieben. Gehen um des Gehens willen, eine Leichtigkeit des Seins.
Dieser Text erschien erstmals in der Print-SZ vom 23.05.2020.