Übers Grüne Band, das ein Todesstreifen war

Spur durch Deutschland, Coburg – Eisfeld, 20. Juli 2020. Heute will ich die Grenze überqueren, die einst die DDR und die Bundesrepublik trennte. Ich ahne aber nicht, dass ich stundenlang darauf wandern werde.

Blick aus dem Fenster des Hochstands bei Schalkau, der vor dem Gewitter schützt, auf den Grenzstreifen

Der Frühstückssaal ist beklemmend gemütlich. So viele Rehgeweihe, wie an den getäferten Wänden hängen, ertrüge keine Jagdhütte. Mit einem anderen Gast – über siebzig schon, sportlich und Witwer – unterhalte ich mich über die Tücken und Sonnenseiten des Radfahrens und Wanderns. Er ist von Leverkusen her unterwegs und fährt nach Ljubljana. Ein Ehepaar hat den Amtsbotenweg von Sesslach nach Coburg durchwandert und nimmt am Gespräch teil. Den Wirt plagt etwas. Er möchte es loswerden und sagt: «Da könnte man glatt Rassist werden.» Er würde uns wenigstens gern zustimmend nicken sehen, aber niemand hat in der Nacht krakeelende Ausländer vor dem Hotel gehört.

Im «Coburger Tageblatt» geht es heute zufälligerweise auch um Rassismus. Zwei einheimische Grafiker haben eine zeitgemässe Variante des Portraits vom Heiligen Mauritius entworfen, der das Stadtwappen schmückt. Die aktuelle Black-Lives-Matter-Debatte bringt die Coburger in eine delikate Situation: Der stilisierte Kopf verstösst für die einen total gegen politische Korrektheit, für die anderen ist es undenkbar, die jahrhundertealte Tradition, den geliebten Stadtpatron als Schwarzen darzustellen, über den Haufen zu werfen. Die beiden Grafiker zeichnen Mauritius in ihrem Entwurf nun mit weniger schwulstigen Lippen, kleineren Ohrringen und feinerem Kraushaar. Eine Grüne Politikerin will eine grosse Diskussion anregen, ergebnisoffen, und der Oberbürgermeister hält sich bedeckt.

Coburger Tageblatt: Der Mohr soll modern sein

Der Wirt versteht nicht, warum ich nach Thüringen will und empfiehlt mir, eine weitere Nacht in Coburg zu bleiben, um nochmals über diesen Plan zu schlafen. Ich ziehe dann los, aber in die falsche Richtung – hinauf zur Veste, der grössten erhaltenen Festungsanlage Deutschlands. Ein Bus bringt mich aus dem Coburger Strassenlabyrinth heraus, setzt mich bei einem OBI ab und ich schlendere durch die letzten Bayerndörfer hinauf zum Lauterberg.

Beim Aufstieg kommt mir eine Schulklasse entgegen, voran der Lehrer, mit professionell mittelprächtiger Laune, mit ihm laufen die Buben und zwei muntere Mädchen, dann ein Abstand und hinten die Lehrerin mit den übrigen Mädchen. Für die nächsten dreieinhalb Stunden sind das die letzten Menschen, die ich zu Gesicht bekomme.

Oben auf dem Lauterberg erstreckt sich in nördlicher Richtung ein weiter, lockerer Mischwald, lange Zeit flattert ein Pfauenauge vor mir her, als wolle es mir den Weg weisen. Das ist lieb, aber ich weiss, wohin ich will: zur Grenze zwischen Bayern und Thüringen, die einst die Zonengrenze war oder der Eiserne Vorhang, die innerdeutsche Grenze, der Todesstreifen oder wie immer man gesagt hat.

Mehr als die Hälfte meines Lebens war mir gewiss, dass diese Ost-West-Grenze Europa für immer teile. Dass sich dahinter zwei ewige Feinde gegenüberstünden und dann war sie doch plötzlich weg. Nun nähere ich mich ihr und bin gespannt, was man noch sieht. Ein Stück weit muss ich mich durchs Dickicht kämpfen, weil ich den Streifen, den meine App anzeigt, zu direkt anpeile – und dann liegt sie plötzlich da. Eine Waldichtung, denke ich, etwa 50 Meter breit, aber links und rechts ist sie nicht begrenzt – es ist der Grenzstreifen. Auf einem Betonplatten-Weg beginne ich, ihm zu folgen.

Der Todesstreifen, der Ost und West trennte

Er hört nicht auf, der Platten-Weg, er liegt auf der Ostseite des Grenzstreifen, ist das Werk der DDR. Er zieht sich immer weiter, Hügel rauf und runter, ist weit in der Ferne immer noch zu sehen und ich stelle mir vor, wie da zusätzlich eine Mauer stand, mit Stacheldraht verstärkt, zwischendurch Wachttürme und das kilometerweit. Alle paar hundert Meter steht ein Jagd-Hochstand. Die Jäger haben die nationalen Volksarmisten abgelöst. In Gedanken versunken marschiere ich vor mich hin, erinnere mich an Geschichten von Fluchtversuchen, die tödlich endeten, an Geschichten von getrennten Familien und bemerke wieder einmal ein heraufziehendes Gewitter nicht. Es kommt schnell, kommt heftig, arge Windstösse bremsen meinen Lauf, und der einzige Fluchtort, den ich erkennen kann, ist ein überdeckter Hochstand. Ich klettere hoch. Der Sturm ist heftig, die Birken neben mir beugen sich tief, und ein ganz klein wenig bange wird mir schon. Ich fände es allerdings unangebracht, wenn der Sturm ausgerechnet jetzt diesen Hochstand fällen würde. Und während der Regen an die kleinen Glasscheiben hämmert wird mir bewusst, wie makaber meine Position ist. Ich hocke da oben wie vor gut dreissig Jahren ein DDR-Grenzer und überschaue den Todesstreifen.

Ein erhaltenes Stück der Sichtblende gegen Westen, die 1981 vor die bestehende Mauer gebaut wurde

Das Gewitter verzieht sich, ich breche auf, lese auf einer Tafel, dass der ganze innerdeutsche Grenzstreifen unterdessen dem Deutschen Naturschutz gehört: «Grenzen trennen – Natur verbindet.» Das «Grüne Band» heisst das Projekt. Allein in Thüringen betreut der Naturschutz 3900 Hektaren. Ich komme an Emsstadt vorbei, einem verlassenen Dorf, das die Bauern 1952 Richtung Bayern verlassen haben. Weniger Glück hatten Lydia und Walter Ruske in der Weilersmühle, die seit 1555 in Betrieb war. Weil sie Menschen aus der sowjetischen Besatzungszone bei der Flucht nach Bayern geholfen haben sollen, wurden sie an einen anderen Ort in der DDR umgesiedelt, und die Mühle haben die Soldaten abgerissen. Auch das erfahre ich auf einer Tafel. In Görsdorf, wo in einem Garten die Beatles «I Want To Hold Your Hand» singen, steht noch ein Stück der Mauer, die zusätzlich zur bestehenden im Jahr 1981 als Sichtblende gegen Westen gebaut worden ist.

Zwei Damen aus Eisfeld rufen dem Wanderer «Gut Weg!» zu

Beim langen Teich vor Eisfeld erzählen mir zwei Frauen, dass hier alles Sperrgebiet war und sie bis 1989 nie an diesen schönen Platz kommen durften. Im Wald hätten abgerichtete Hunde gelauert. Auch ihre Dörfer, Eisfeld oder Görsdorf, waren Sperrgebiet. In die DDR hätten sie schon reisen dürfen, aber nur bestimmten Personen war es erlaubt, ins Sperrgebiet zu kommen: Parteikader und Geschäftsleute. Und dann sei alles so schnell gegangen. So plötzlich. Und ohne Krieg. Die beiden Damen rufen mir «Gut Weg!» zu, als ich weiterziehe.

In Eisfeld stehen der Strasse entlang zwei-, dreistöckige Mehrfamilienhäuser, schmucklos, nüchtern, kleine Vorgärten. Ein Mann mit Glatze und zwei Hunden eilt zur Wiese hinunter. Er will mit ihnen spielen. Schindelhäuser mit hohlen Fenstern, Steinhäuser wieder, ein Norma-Einkaufscenter, dann ein Lidl. Mr. Billig – Gartenparadies. Etwa 7500 Einwohner leben hier. In der Mitte  des Dorfes trohnt ein Schloss, in dem ein Porzellanmuseum zu besichtigen ist. Viele Häuser stehen leer.

Dorfeingang von Eisfeld

Meine Pension ist preiswert, Frühstück gibt es nicht, «aber nebenan ist ein Edeka». Früher war das mal ein Hotel, in dem eine Herzogin abstieg, aber als Eisfeld in der Sperrzone lag, kamen nur noch Geschäftsleute, die in der Fabrik Zeiss-Jena – man produzierte hier Feldstecher – zu tun hatten. Oder in der Kinderkleiderschneiderei oder anderen Fabriken, die jetzt alle abgerissen worden sind. Nein, Gasthäuser gibt es keine, am Montag sowieso nicht, es geht eh keiner hin. Man darf ja nicht mehr rauchen. Aber hinter dem Edeka verkauft einer Döner und Pizza. Er macht sie frisch, ganz frisch. Aber der hat auch zu. Nur Edeka ist noch offen. Die Verkäuferin ist beispiellos freundlich und nennt Frau Schilling beim Namen. Vor der Edeka hängen Halbwüchsige herum, die mir nachstarren. Wahrscheinlich haben sie sofort erkannt, dass ich ein Fremder bin.

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