Spur durch Deutschland: Schongau – Seehaupt, 26. Juni 2020. Ein blumenpflückender Mann empfiehlt mir, zum Starnberger See statt zum Ammer See zu wandern. Später erklärt mir ein pensionierter Polizist, der Äste zerhackt, wie Verbote zu verstehen seien, und die Zimmervermieterin verwechselt die Schweizer mit den Serben oder jedenfalls Roger Federer mit Djokovic.
Das Städtchen Schongau oben auf dem Hügel, der einst beidseitig von der Lech umflossen gewesen sein soll, verlockt einen, herumzuschlendern, in Schaufenster zu gucken, obwohl man gar nichts braucht, sich hinzusetzen und einen Kaffee zu trinken. Dinge halt, die man an einem Samstagmorgen gerne macht. Das tun die Schongauer denn auch und da und dort stehen sie draussen vor dem Laden im Anderthalb-Meter-Abstand ordentlich Schlange, die Maske bereits angezogen, und warten, bis sie eintreten dürfen.
Ich möchte heute nicht zu weit gehen, die letzten beiden Tage waren sehr anstrengend und ich habe so intensiv geschlafen, dass ich beim Erwachen erst gar nicht wusste, wo ich bin. Also: den Tag ruhig angehen. Schlendern. Richtung Ammersee. Ich finde einen Tourismusprospekt, wo eine Route vorgeschlagen wird, aber die ersten Kilometer bis Peissenberg sehen nicht vielversprechend aus. Wieder so ein bisschen durch Gewerbequartiere. Ich wandere am Bahnhof vorbei, wo ein Zug steht, ein hübscher, kleiner Eisenbahnzug, nur drei Wagen. Der steht einfach da und wartet. Verlockend, dieser Anblick. Ein paar Kilometer rausfahren? Nein, doch nicht. Ein Bahnangestellter steht herum, tut nicht viel, ausser rumzugucken, und ich frage ihn: «Fährt der nach Peissenberg?» «Ja, aber sofort einsteigen! Haben Sie keine Maske?» Natürlich habe ich eine Maske, aber ich hätte lieber einen Fahrschein gehabt. Das ist dem Mann egal, er stösst mich in den ersten Wagen, kaum habe ich die Maske übergestülpt, der Zug fährt los, und so fahre ich ein paar Kilometer in die Landschaft hinaus. Ohne Schein, aber mit Maske.
Es geht harzig voran ab Peissenberg, es läuft mir heute nicht und es regnet leicht. Ich steige auf einen Hügelzug, auf dem ich ostwärts wandern will und setze mich auf eine Bank im Schatten eines Waldrands, vor mir eine der noch wenigen ungemähten Wiesen. Mädchen hoch zu Ross ziehen vorbei und später ein hagerer Mann in schwarzer Hose aus schwerem Stoff und einer ebensolchen Jacke. Mit einer Schere schneidet er Blumen und ordnet sie zu einem Strauss zusammen. Keine spektakulären Blumen, Margritten und so. Wir beginnen über das rare Angebot der Blumenwiesen zu reden, und er sagt, das sei so, weil die Bauern zu viel düngen. Ich nicke. Er fragt nach meinem Weg, woher und wohin. Als ich den Ammersee erwähne, schüttelt er den Kopf und sagt, er würde zum Starnberger See. Der Weg sei schöner und der See auch. Ich frage, ob dort nicht alles mondän und teuer sei. Er schüttelt den Kopf. Nicht mondän. Nicht besonders teuer. Dann sagt er, er sei Büchsenmacher gewesen. Gewehre. Jagdgewehre. Schiessgewehre halt. Alles hat er repariert. Er verabschiedet sich und trägt die Blumen nach Hause.
Unterdessen haben sich die Wolken verzogen, ich stapfe auf dem Hügelzug durch hohes Gras, klettere über Weidezäune. Den allgemeinen Kurs habe ich geändert, wandere jetzt Richtung Starnberger See, muss eine Schnellstrasse überqueren und gleich danach ein Bahntrassee. Ein Kiesweg zweigt in ein buschiges Wäldchen. Dahinter vermute ich die Bahnlinie. Die Büsche weiten sich zu einer Lichtung, auf der ein kräftiger Mann in weissem Leibchen und Latzhose arbeitet, auf dem Kopf eine Mütze mit einem Emblem einer amerikanischen Motorrad-Gang. Breitbeinig, mit einer Astschere in den Händen, steht er da und schaut mich erwartungsvoll an. Da geht’s nicht durch, sagt er. Ich erkläre ihm mein Anliegen. Zweihundert Meter weiter, sagt er dann, gehe ein schmaler Pfad zum Bahngeleise. Dort könne man auf die andere Seite zum Fussweg. Aber es sei verboten. Dann macht er eine Pause. «Aber wenn’s niemand sieht, ist’s auch nicht verboten gewesen.» So schnell lässt er mich nicht gehen. Er klärt mich erst auf, was er da treibe. Eschenäste zerstückeln. Die Eschen hier seien krank. Sie hätten einen Virus. Auch Eschen hätten Viren. Und kranke Äste könnten hinten auf sein Bienenhaus fallen. Dann fragt er mich aus. Über meine Reise, mein Alter und solche Sachen.
Was mich dann verblüfft: Er ist Rentner. Sieht zwar rüstig aus wie ein erfahrener Coach in einem Vorstadt-Fitnesscenter – aber er ist in Rente. Wer in Bayern zwanzig Jahre im Polizeidienst steht, wird Rentner. Jeden Tag, den er nicht mehr arbeiten müsse, preise er, versichert er mir. Das gehe ja «narrisch» zu heutzutage. Stuttgart zum Beispiel: Wie da der Mob auf Polizeibeamte losgegangen sei – «des bruuch i nimme». Viral machen auch andere Bilder von Angriffen auf Polizeibeamte die Runde, sagt er. Nein, das braucht er nicht mehr. Sie hätten auch ihre Klientel gehabt, die Hooligans zum Beispiel. Das jetzt sei aber schlimmer. Da hat Corona etwas angestaut, das muss jetzt raus.
Ich finde den verbotenen Bahnübergang, lasse erst einen ICE durch und steige über die Geleise, Etting zu. Es geht über schöne Feldwege, Waldrändern entlang. Es ist heiss geworden, ich habe Durst und ein Wegweiser führt mich zum «Herrenbrünnle». Das ist, wie ich sehe, eine Quelle, die hier entspringt und in einem Brunnen gefasst wird. Leider steht ein Mann drin und reinigt den Trog, so dass man das Wasser nicht trinken kann. In Etting sehe ich weder einen Brunnen noch einen Menschen, den ich um Wasser bitten kann. Ganz am Ende des Dorfs liegt der Friedhof. Eine Frau kommt heraus und beschreibt mir, zwischen welchen Gräberreihen ich einen Hahn finden kann. Ab jetzt weiss ich: Wenn ich wieder mal am Verdursten bin, suche ich einen Friedhof auf.
Gewitter drohen, heftige offenbar, wie die App anzeigt. Ich finde keine Unterkunft in diesen verstreuten Dörfern, keine Läden, um etwas einzukaufen, falls ich doch in einer Waldhütte schlafen könnte. So ziehe ich Kilometer um Kilometer ostwärts über bewaldete Hügel und erreiche ungefähr zeitgleich mit dem ersten Gewitter Seehaupt am Starnberger See. Da gibt’s noch ein freies Zimmer und die dafür zuständige Frau fragt mich, ob ich Covid-positiv sei. Ich sage nein. Kaum jedenfalls. Aber, sagt sie, ich sei Schweizer. Ich sage ja. Sie schaut mich streng an und sagt: Ihr habt doch diese Ansteckungen mit diesem Tennisstar, an diesem Adria-Turnier.
Ich erkläre ihr, dass der Schweizer Tennisstar Roger Federer heisse und nicht Djokovic. Das sogenannte Adria-Turnier mit den Corona-Ansteckungen habe Djokovic organisiert und nicht Federer. Federer sei daheim und hüte seine Kinder. Die Frau sieht mich an, als ob ich ihr einen Bären aufbinde. Ich sehe ihr an, dass sie mir nicht glaubt. Aber ich erhalte das Zimmer dann doch. Draussen gewittert es heftig und unten am See rücken die Leute bei dem gewaltigen Regen etwas näher zusammen unter den Schirmen.
Lieber Horst, deine Geschichten sind eine wunderbare Lektüre! Geniess wieterhin deine Reise (von/zu/nach Jesus?) und die vielen spannenden Begegnungen! Herzliche Grüsse vom Stadt-Balkon, Jerome