Spur durch Deutschland, Neustadt am Rennsteig – Stadtilm, 22. Juli 2020. Erst ein märchenhafter Weiher im Wald, dann ein Weg, als hätte man den Wanderern und Radfahrern einen Teppich auslegen wollen – das ist fast zu viel Glück. Dafür lacht mich ein Bierbrauer in Singen heftig aus.
Im Hotel Kammweg, dem Urlauberwohnheim, werden die Corona-Regeln sehr strikt eingehalten. Wer sich vom Tisch erhebt, sich also vom statischen in den dynamischen Zustand versetzt, ohne die Maske anzuschnallen, wird umgehend freundlich, aber streng, sehr streng, ermahnt. Das gilt auch für Ungezogene, die sich eigenhändig eine kleine Butter am Buffet holen wollen. So genau nimmt man es in dieser Gegend sonst nicht mit den Vorschriften. Einen Corona-Zettel, den man in anderen Regionen in jeder Stehbar ausfüllen muss, habe ich vor dem Hotel am Kammweg schon eine Weile nicht mehr gesehen.
Dreissig Tage lang müssen die Wirte diese Zettel aufbehalten. Steht einer ihrer Gäste aus diesem Zeitraum im Verdacht, Covid-positiv zu sein, schicken sie ihre gesammelten Adressen den Behörden. Geschieht das nicht, wirft er sie nach dreissig Tagen weg. So gesehen sind meine ersten Zettel, die ich auf dieser Wanderung ausgefüllt habe, schon vernichtet. Meine Spur löst sich von hinten auf, hinter Ravensburg ist nichts mehr.
Der Weg führt mich heute durch das Wohlrosetal, so benannt nach dem Fluss, der dort durchfliesst. Zuerst aber spaziere ich an Tannen des Thüringer Waldes vorbei, leicht abwärts meistens, und stehe unvermittelt vor einem Weiher, der in diesem Morgenlicht so verlockend da liegt, dass ich Rast machen muss. Alle Ruhebänke sind noch leer, das Waldhaus auch. Man kommt fast ins Träumen, soll das aber nicht tun, sonst erscheint die Fee: «Sie sitzt in Mondscheinnächten/ Am schwarzen See im Tann,/ Und löst die langen Flechten,/ Und lockt den Wandersmann.» So etwa hat es Emanuel Geibel (1815 – 1884) gedichtet, aber weil die Verse damit enden, dass der Wandersmann am Schluss als Leiche auf dem Grund liegt, ziehe ich weiter.
Ich gerate auf einen schmalen, asphaltierten Weg, der links und rechts breite Kiespfade für Wanderer hat, und folge ihm talwärts. Stetig leicht abfallend, immer geradeaus, leichte, weite Kurven, links Wald, rechts Wald – wunderbar zu gehen. Stundenlang, scheint mir. Manchmal kommen Radfahrer entgegen, manchmal überholen mich welche auf dieser buckellosen, feinen Piste. Immer wieder Ruhebänke und ich bewundere die Thüringer Tourismuskultur. Es fällt mir mit zunehmender Wanderzeit auf, dass dieser Weg auf einer Art Trassée liegt. Auch die Schottersteine entdecke ich nun, die neben dem Trassée liegen, links und rechts. Langsam dämmert es mir, dass dies ein alter Damm einer stillgelegten Eisenbahn sein könnte und als in Möhrenbach ein geschlossener Gasthof mit dem Schild «Bahnhofshotel zum Langen Berg» auftaucht, weiss ich, dass meine Vermutung stimmt.
Eine Frau in Gehren, die an der stillgelegten Strecke wohnt, bestätigt das. Hier sei eine Eisenbahn gefahren, von Ilmenau nach Grossbreitenbach. Sie habe am Morgen die Arbeiter nach Grossbreitenbach gefahren, die dort im Holzgewerbe und wahrscheinlich auch in den Glasfabriken gearbeitet hätten. Und am Abend wieder zurück. Nach der Wende war Schluss mit der Strecke. Sagt die Frau. Unmittelbar nach der Wende, 1990 oder 1991. Alles sei verwildert und vor zehn Jahren habe man die Geleise und Schwellen zurückgebaut und den Radweg erstellt. Es ist was geworden aus dem Bahndamm, sagt die Frau. Ihr Sohn wohnt übrigens in der Schweiz, in Goldach. Mitte August besucht sie ihn mit ihrem Mann und dann gehen sie auf einen Nachtmarsch auf den Hohen Kasten.
Der Wanderweg führt mich weiter, unter einer Brücke entdecke ich eine Tafel, auf der die Geschichte der Bahn, die 1883 den Betrieb aufgenommen hat, geschildert wird. Die Frau in Gehren hat mir all das, was da steht, genauso erzählt. Eine Kleinigkeit allerdings hat sie anders in Erinnerung. Die Bahn wurde nicht unmittelbar nach der Wende stillgelegt, sondern erst 1998. Das Jahrzehnt nach dem Mauerfall, denke ich, muss für die Menschen hier ein so gewaltiger Umbruch gewesen sein, dass alles, was damals geschah, als ein einziges Durcheinander in der Erinnerung bleibt.
Jesuborn ist eine der nächsten Ortschaften. Die Leute sprechen es wie «dschesseborn» aus, wie ich später im Nachbardorf erfahre. Mit Jesus hat das nichts zu tun – «born» heisst Brunnen und «jesu» soll von Gären kommen. Gegärtes Wasser – also wahrscheinlich Bier – soll hier einst Pilgerern angeboten worden sein. Diese Tradition lebt aber überhaupt nicht mehr. Nicht einmal Wasser bekomme ich, weil weder Brunnen noch Leute zu sehen sind. Auch in Angstedt nicht, und ich habe Durst, der Weg steigt an, die Nachmittagssonne drückt warm durch die Bäume hindurch und das nächste Dorf, das Singen heisst, sieht von weitem nicht so aus, als ob da ein Gasthof stünde.
Es gebe einen, sagt mir ein Mann, der Zaunpfähle in den Boden haut. Aber heute sei er geschlossen. Ich möge doch in die Brauerei gehen am Dorfausgang, dort lasse man keinen verdursten. Die Brauerei Schmitt in Singen, untergebracht in einer Art Schuppen mit launigen Bier-Sprüchen am hölzernen Tor, hat kürzlich das 125-Jahre-Jubiläum gefeiert. Der Chef steht mit ein paar Kollegen hinter einer Art Tresen und sieht aus wie der leibhaftige Schauspieler Devid Striesow vom Tatort. Er muss herzlich lachen, als ich ihn um ein Wasser bitte. Kein Bier? Er hat überhaupt kein Verständnis für meine Erklärung, dass ich gern ein Bier tränke, aber noch etwa sechs Kilometer gehen müsse. Das findet er unklug. Er geht zum Kühlschrank und holt ein Fläschchen Wasser hervor. «Bitte zwei», sage ich.
«Soviel Wasser kann kein Mensch saufen!»
Ich sitze vor der Brauerei und höre die Männer lachen. Sie sagen immer wieder «Wasser» und prusten los. Die machen sich lustig über mich. Einer kommt heraus, trägt eine Kiste Bier zum Auto. «Hier, nimm eine Flasche! Geschenkt!»
Ausserhalb Singens, fünf Kilometer vor meinem Ziel, stehen noch einmal ein paar Häuser, die offenbar auch zum Dorf gehören. Ein Mann eilt auf mich zu und sagt, ich ginge in die falsche Richtung. Der Bahnhof sei dort drüben, vierhundert Meter noch. Ihm mag ich nun nicht auch noch erklären, dass ich nach Stadtilm wandern möchte und folge seinem Rat, trotte hinüber zum Bahnhof von Singen in Thüringen. Er kommt ohne Personal aus. «Fahrgäste, die einsteigen möchten, werden gebeten, sich sichtbar auf den Bahnsteig zu stellen, so dass der Lokführer den Wunsch zum Einstieg erkennt.»
Stadtilm, mein Ziel, ist eine Ortschaft mit 4900 Einwohnern und dem grössten Marktplatz Deutschlands. Man kommt sich tatsächlich etwas verloren vor, wenn man drauf steht. Es hat kaum Gaststätten an diesem Platz, aber etwas weiter weg steht das Hotel zum Ginkgobaum. Wenn man die Wirtin freundlich fragt, serviert sie im Innenhof ein Chilli con Carne. Es kostet 7.50 Euro und schmeckt hervorragend.