Spur durch Deutschland, Höchstädt – Ulm, 6. Juli 2020. Statt nach Ulm zu wandern, werde ich ab Höchstädt direkt nach Norden Richtung Nürnberg aufbrechen. Aber nicht heute: Da ich bald Besuch in Ulm erwarte, machen wir uns dorthin auf. Das ist der neue Plan.
Ins bräunliche Wasser des stillgelegten Pools zeichnet der Regen seine Kreise. Das vergammelte Bassin steht im Garten des leicht verkommenen Hotels Berg. Montagmorgen, Regenmorgen, wie letzte Woche auch. Hier, im Hotel Berg, gibt’s entgegen der Corona-Vorschriften ein Frühstücksbuffet, und beim Kaffee besprechen Lix und ich das weitere Vorgehen. Wir sind in den letzten Tagen zu weit nach Norden abgedriftet. In zwei Tagen nach Ulm zu wandern, wo ich am Dienstagabend Birsfelder Besuch erwarte, wäre für meinen lädierten Fuss etwas belastend. Deshalb ziehen wir, sobald der Regen etwas nachlässt, los und zwar der Donau entlang aufwärts, um an die frische Luft zu kommen. In Ulm werde ich zwei Tage Pause machen, Lix fährt morgen heim, und voraussichtlich am Mitttwoch geht’s weiter ab Höchstädt Richtung Nürnberg. Das ist der neue Plan und den finden wir genial und freuen uns auf den Ulmer Abstecher.
Zuerst aber hinunter zur Donau, dem Fluss entlang, der in vielen Gedichten und Liedern besungen wird, der vorerst nicht blau ist, wie die Dichter behaupten, sondern es erst wird, als die Sonne gegen Mittag durchbricht. Eines dieser Lieder schwirrt mir dauernd im Kopf herum, ich erinnere mich nicht mehr genau an seine Verse, was aber gar nicht so schlecht sein muss, da es eher ein unanständiges Lied und das Objekt der Strophen strohblond ist. Wir lenken uns ab von unschicklichen Gedanken und wenden uns der gehobenen Diskussion zu, die wir in den letzten Tagen immer führen, wenn wir Neubauquartiere durchqueren – und zwar der Erörterung der ästhetischen Gestaltung deutscher Haustüren. Lix hat mich anfangs gescholten, weil ich auf dieser Reise mal geschrieben habe, in Deutschland fände man die hässlichsten Haustüren. Das sei nicht richtig, hat er gesagt. Die in Frankreich seien den deutschen ebenbürtig.
Allerdings hat er seine Meinung geändert, nachdem wir uns in den letzten Tagen intensiv der Betrachtung unterschiedlichster Exemplare gewidmet und sie immer wieder fotografiert haben. Massiver Kunststoff auf Hochglanz, manchmal Holz oder Holzimitat, dazu Glas, Milchglas, Gitter- oder sonstwie intransparentes Glas in geschwunger Form eingelegt, hoch oder quer oder sonstwie schräg und schliesslich gehört ein ein rundes oder kantiges Metallelement draufgeschmiedet. Vielleicht damit das Schloss weniger ins Auge sticht. Hin und wieder gesellt sich Kunst auf oder neben die Türe. Es drängt sich der Verdacht auf, dass deutsche Haustüren – wie das bei gewissen Tieren der Fall ist – die Funktion einer Schrecktracht haben, um allfällige Besucher abzuschrecken.
Die Donau ist hier im obersten Zipfel Oberschwabens schon recht in die Breite gewachsen, obwohl sie noch jung und gegen 2500 Kilometer vom Schwarzen Meer entfernt ist. Schiffe verkehren aber nicht, kein einziges Boot begegnet uns. Dafür drei Fischer, drei junge Burschen, die in einem Zelt das Wochenende am Ufer verbracht haben. Was es denn zu fischen gebe, fragen wir. Alles, sagt der eine. Was sie denn so gefangen hätten. Nichts, sagt er. Er fragt dann, woher wir kommen und wohin wir gehen. Er findet gut, was wir machen.
In Dillingen, wo es eine Akademie für Lehrerfortbildung gibt, obwohl die Lehrer längst «Lehrpersonen» geworden sind, ist genug für heute. Jetzt beginnt die Ruhephase oder anders gesagt: der Ausflug nach Ulm, in die Stadt, die mir ein radelndes Paar vor zwei Wochen im Gasthof Bären in Altusried ans Herz gelegt hat. Ulm müsse ich unbedingt besuchen – die Stadt mit dem höchsten Kirchenturm der Welt und dem schiefsten Hotel obendrein, dann das Fischerviertel, das sei sehr malerisch.
Wir fahren also hin, spazieren in dieses Fischerviertel und lassen uns von der Wirtin das Schiefe Hotel zeigen. Ihr verstorbener Mann, ein Architekt, hat es vor 25 Jahren gekauft, eine Ruine, eine Abbruchhütte, und es aufwendig renoviert. Das Frühstück wird über dem vorbeifliessenden Kanal serviert, die Zimmer haben alle eigene Namen, in der einen Wand hat man die hölzernen Nägel aus dem 15. Jahrhundert freigelegt und in einer anderen die geflochtenen Holzarmierungen, die einst die Lehmwände zusammenhielten. Ein Liebhaberobjekt, das als schiefstes Hotel der Welt Eingang ins Guinessbuch der Rekorde gefunden hat.
Morgen habe ich Zeit, die Stadt anzuschauen, doch wir machen bereits einen ersten Rundgang. Lix hält Ausschau nach dem Einstein-Museum, in dem er schon mal war. Wir finden es auf Anhieb nicht, was aber auch nicht so tragisch ist, weil Einstein nur gerade 15 Monate hier gelebt hat und zwar die ersten seines Lebens und da wird er die berühmte Formel ohnehin noch nicht gefunden haben. Bern, wo er im Historischen Museum auch hochgeehrt wird, hat ihn doch wohl stärker geprägt und beeinflusst. Das war beim fliegenden Schneider ganz anders. Der hat seine Flugübungen allein in Ulm und um Ulm herum durchgeführt. Zwar ist er 1811 vor den Augen adliger Zuschauer in die Donau gestürzt und hat sich zum Gespött und Inbegriff des Aufschneiders gemacht, aber im Gegensatz zum tapferen Schneiderlein hat er auch ganz patente Erfindungen gemacht, zum Beispiel Beinprothesen mit Gelenken. Das alles erfährt man auf einem ersten Rundgang durch die Stadt und morgen werde ich noch das eine oder andere Weitere sehen.
Es ist im übrigen erstaunlich kühl in diesem Ulm. Die Leute sitzen draussen an den Tischen, die Schultern eingezogen, eine Jacke, wenn sie denn eine dabeihaben, drüber und sie haben trotzdem Hühnerhaut. Es ist der 6. Juli und die Gäste frieren. Die Bise, sagen wir, doch die Leute hier verstehen «Bise» nicht. Sie sagen, der Ostwind bläst.