Spur durch Deutschland, Forchheim – Bamberg, 16. Juli 2020. Über den heutigen Tag gibt es wenig zu berichten, weil der Weg immer geradeaus führt, kein Mensch freiwillig ins Freie geht und ich möglichst schnell irgendwo im Trockenen unterkommen will.
Die Kellnerin im «Schweizer Grom» ist dieselbe wie am Abend, nicht unfreundlicher trotz Spät- und Frühdienst, aber auch keine Spur freundlicher. Eine einzige Kaffeetasse steht auf einem der Tische in der Gaststube und ich entschuldige mich für mein spätes Erscheinen. «Macht nichts, einer muss den letzten machen.» Mir gefällt der fränkische Charme. Er hat etwas sehr Direktes. Das ist mir schon am Abend aufgefallen. Ich kaue mein Brot, die Kellnerin hantiert in Küche, am Telefon, in der Gaststube, schiebt eine Ladung Papier und Karton in den Kachelofen und ich frage, ob sie einfeuern will. «Bei dem Wetter.»
Sie wird etwa dreissig sein, nimmt am Telefon die Reservation für ein Zimmer an diesem Abend entgegen, und ich erinnere mich, gestern mit ihr telefoniert zu haben. «Ja, haben wir.» Es mag kein Gespräch in Gang kommen. Den Wirt, der gestern Abend so betriebsam war, sehe ich nur an den Wänden: auf einem grossen Bild mit einem Korb voller Pfifferlinge, mit einem Kalb, das offensichtlich geschlachtet werden soll – das Gasthaus ist auch eine Metzgerei – und mit ein paar Männern auf einem Gruppenfoto. Ich frage die junge Frau, ob sie zur Familie gehöre. «Ich bin die Enkelin.» Also: Nicht Kellnerin, sondern Jung-Wirtin.
Draussen ist es grau, der Himmel bedeckt, kein klassisches Juliwetter. «Sei froh», hat der Grossvater der jungen Frau zu mir gesagt, als ich am Abend am «Schäufele» herumsägte, «sei froh, ist’s nicht Zwanzig-Achtzehn. Damals, vor genau zwei Jahren, hatten wir vierzig Grad. Vierzig Grad im Schatten. Da hättest nicht so weit laufen können.» Das mit den vierzig Grad finde dick aufgetragen, aber heiss war es vor zwei Jahren.
Als ich den Rucksack schultere und losmarschiere, rieche ich tatsächlich Holzfeuer aus einem Kamin. Es ist Mitte Juli, genau Mitte Juli, Sommermonat, und hier im Stadtteil Burk von Forchheim heizen die Leute die Öfen ein. Es raucht aus mehreren Kaminen. Die Arbeiter auf den Einfamilienhaus-Baustellen der Siemens-Angestellten tragen Faserpelz-Jacken und wer nicht gerade einen Pickel in der Hand hat oder einen Trax führt, steckt die Hände in die Hosensäcke. In den Gärten der Einfamilienhäuser, die bereits stehen und bewohnt sind, liegen Plastiktraktoren herum und Gerätschaften für den Sandkasten. Die Siemens-Angestellten haben also Kinder. In den meisten Gärten steht ein rundes Trampolin mit seitlich hochgezogenen Schutznetzen. Die Kinder hier üben ihre Saltis in den eigenen Gärten und nicht bei den Nachbarskindern. Die meisten haben auch eigene Pools, aufblasbare zwar, aber in jedem Garten einen eigenen.
Es nieselt leicht. Angenehm zum Wandern. Die Wassertöpfchen setzen sich auf die Uhr, auf den Arm, aber wirklich nass werde ich vorerst nicht. Der Himmel ist grau. Eine Frage der Zeit, bis der angekündigte, leichte Schauer einsetzen wird. Die Tröpfchen wachsen allmählich zu kleinen, nassen Fusseln, die vor und neben und hinter mir zu Boden sausen. Ich bin nach einer Waldpassage am Uferweg des Kanals angelangt und die Fusseln verzwirnen sich zu Bindfäden – nun regnet es wirklich und ziemlich heftig. Ich ziehe eine Hülle über den Rucksack und stelle das Denken und Nachdenken und überhaupt alles ein und trampe vor mich hin, dem Kanal entlang. Das hier ist Fränkische Schweiz. So nennt man das. Der Stammtisch im «Schweizer Grom» hat gestern Abend behauptet, die Fränkische Schweiz sei schöner als die richtige Schweiz, nur weniger hoch und nicht so teuer. Ich kann die Schönheit an diesem Tag nicht erkennen.
Unter einer Brücke, die über den Kanal führt, will ich mich auf eine Mauer setzen, aber die ist so tauben- oder was-auch-immer-verschissen, dass da kein Hocken ist. Kein Mensch zu sehen weit und breit und wenn doch, dann ist es ein Radfahrer, der mit eingezogenem Kopf vorbeifährt. Zwei, drei Hündeler, die nur draussen sind, weil der Hund mal muss. Und ein Fischer, aber am anderen Ufer.
Es gibt wenig zu sehen, zu hören, zu riechen, wenn man im Regen stundenlang auf einem Kanaldamm seine Schritte in den Kies setzt. Zu sehen sind das Wasser mit seinen unzähligen Regentropfenkreisen, der gelbe Hornklee am Wegrand plus all die vielen Gräser. Die Geräusche sind am vielfältigsten: eine Autobahn, das Knirschen der Pneus eines Fahrrads, das Gurren von Tauben, der Bagger in einem Kieswerk, irgendwo ein Maschinenraum, ein in der Ferne vorbeidonnernder Zug.
Ach, doch! Zwei Frachter habe ich noch gesehen, zwei Lastschiffe, die den Main-Donau-Kanal hochfahren. Zwei! Zweiunddreissig Jahre lang, von 1960 bis 1992, hat man an diesem Kanal gebaut. Ein riesiges Projekt, um Rhein und Donau, Schwarzes Meer und Atlantik oder zumindest die Nordsee, miteinander zu verbinden. Und jetzt fahren zwei Lastkähne hoch an einem Nachmittag. Ob das noch etwas wird? Vor einem alten Schleuse-Häuschen erfahre ich auf einer Informationstafel, dass bereits ab 1846 ein Kanal, der Ludwig-Donau-Main-Kanal, hier vorbeiführte. Er wurde bald zu schmal für die breiter werdenden Schiffe, dann machte die Bahn der Binnenschifffahrt Konkurrenz, die Kanal-Gesellschaft ging Konkurs. Wenn hier nicht bald mehr Schiffe hin- und herfahren und zwar subito, so denke ich beim Wandern, dann wiederholt sich die Geschichte.
Einmal setzt der Regen aus, ich setze mich auf eine Bank, braue mir einen Tee, doch bevor das Wasser siedet, setzt der Schauer wieder ein. Zwischen den Bäumen vorn im Wald glaube ich Kirchtürme zu erkennen. So müssen den Wanderern im 19. Jahrhundert die Städte erschienen sein, wenn sie unterwegs waren. Heute prägen meistens andere Silhouetten die Städte. Aber diese Türme weit vorn könnten die vom Bamberger Dom sein. Ich marschiere schneller, will endlich irgendwo ins Trockene.