Sachsens Wein wächst neben dem Himmelreich

Spur durch Deutschland, Apolda – Naumburg, 29. Juli 2020. Den Morgen vertrödle ich in Apoldas Gassen, weil mich die Ausstellung «Olle DDR» lockt. Dann verlasse ich Thüringen und wandere durch Sachsen-Anhalts Weinberge ins Himmelreich. Die Aussicht ins Tal der Saale ist fantastisch, jene in die Wälder betrüblich.

Wein vom 51. Breitengrad – auch in Sachsen-Anhalt gibt es Winzer

In der Museumsbaracke von Apolda würde ich gern die Ausstellung «Olle DDR» anschauen. Es sei «eine Reise in die Vergangenheit, die zum Schmunzeln, aber auch zum Nachdenken anregen soll. Mit ihr soll die Geschichte des DDR-Alltags illustriert werden, nicht mehr und nicht weniger.» Sie öffnet erst um elf, also spaziere ich noch etwas durch die Gassen, schaue einer morgendlichen Geburtstagsfeier im Garten des Pflegeheims zu und betrachte an einer Hausfassade die Performance einer Künstlerin, die sich mit Apoldas Trikotage-Industrie auseinandergesetzt hat. Sogar John Lennon trägt was Gestricktes in einem der Fenster. Textiles Handwerk gibt’s noch heute im Städtchen, es hat eine jahrhundertalte Tradition hier. Im Dritten Reich produzierten einzelne Fabriken ganz spezielle Stoffe – zum Beispiel Fallschirmseide für die Wehrmacht.

Da war nix mit «Olle DDR»

Um elf Uhr suche ich die Museumsbaracke auf und bin enttäuscht. Das Haus, in dem einst wichtige Funktionäre des Arbeiter- und Bauernstaates tätig waren, ist leer. An der Tür hängt ein Plakat, das «technische Gründe» für die vorübergehende Schliessung der Ausstellung «Olle DDR» geltend macht. Auf dem Weg zurück komme ich an einem Mahnmal vorbei, das meine gestrige Feststellung, es gebe hier keine Gedenkorte für den Zweiten Weltkrieg, als etwas voreilig erscheinen lässt. Das Memorial ist 1951 eingeweiht worden und gedenkt «Unseren Freiheitskämpfern, die ihr Leben gaben im Kampf gegen Faschismus für Freiheit, Einheit und Frieden» – also für Opfer im Zweiten Weltkrieg. Namen sind keine aufgeführt wie auf den Gedenksteinen in den Dörfern der alten Bundesländer. Das wäre wohl etwas schwierig, denn nicht alle Opfer in Apolda, wo neben Fallschirmseide auch andere Rüstungsgüter produziert wurden, starben im Kampf gegen den Faschismus.

Mahnmal in Apolda

Ich habe nun etwas viel Zeit vertrödelt und gestatte mir, mit dem Bus ein paar Kilometer zu fahren – bis nach Bad Sulza, einem – wie es der Name sagt – Kur- und Badeort, der auch vor der Wende eine Reha-Station war und entsprechend mit markigen Bauten bestückt ist. Hier verlasse ich Thüringen, denke an die letzten Tage zurück, und was mir haften bleibt, sind die sehr wortkargen Leute in den ländlichen Gebieten. Es war schwierig, ein Gespräch zu führen, und mir ist aufgefallen, dass viele ihren Blick auf den Boden richten, wenn sich die Wege kreuzen. Vielleicht ist das natürlich nur eine Einbildung eines voreingenommenen Durchwanderers.

Trotzdem bin ich gespannt, wie ich den Leuten in Sachsen-Anhalt begegne. Ich wandere einen Weg hinan auf die Ebene über dem Tal der Saale, will in ein Waldstück einbiegen, doch da versperrt ein Paketbus der Post mit beidseits offenen Türen den Weg. Ich drücke mich um die eine der Türen herum und stolpere hinter dem Bus über zwei junge Postmänner, die Mittagspause machen und einen Joint rauchen. Sie erschrecken und der eine will mir einen Zug anbieten. Da mag ich jetzt aber nicht mithalten und sage, ich sei zur Zeit schon auf einem Trip. Die beiden schauen sich fassungslos an und brüllen los vor Lachen.

Mein erster Trabi! – in Bad Kösen

Das ist doch schon mal ein freundlicher Empfang in Sachsen-Anhalt. So haben ihn meine Clichées nicht vorgesehen. Und dann kommt die nächste Überraschung: Nachdem ich den Wald durchquert habe, stehe ich in einem Rebberg. Nicht etwas zwischen zwei, drei Rebstöcken, sondern in einem Weinberg, der sich kilometerweit dahinzieht. Dass hier Wein wächst, habe ich wirklich nicht gewusst. Hoch über dem Tal der Saale stehe ich, unten schlängelt sich der Fluss, die Sonne brennt heftig in den Hang, unter dem Humus erstreckt sich offenbar Muschelkalk – wieso soll das keinen guten Wein geben?

Blick vom Himmelreich ins Tal der Saale mit Saaleck

In der Ferne thronen Burgen an den Hängen, am Horizont drehen die Windräder, die ich zu zählen versuche, bei 120 allerdings aufhöre, und ein entgegenkommender Mann, der mit Frau und Enkelkind unterwegs ist, spricht mich von sich aus an: Weit müsse ich nicht mehr gehen, dann sei ich im Himmelreich und könne was Kühles trinken. Jetzt merke ich, dass ich in Sachsen bin – der Mann redet wie Olaf Schubert. Das «i» tönt wie ein näselndes «ö». Ins Himmelreich zieht es mich grundsätzlich noch nicht so sehr, aber das Himmelreich hier oben ist eine lauschige Gastwirtschaft mit schattigen Plätzen auf einem unglaublich schönen Aussichtspunkt. Unter mir das Tal, durch das die Saale eine grosszügige Schlaufe zieht und mittendrin liegt Saaleck, dekoriert von zwei Burgen auf der gegenüberliegenden Talseite. Auf dem Fluss gleiten Gummiboote dahin, im Hintergrund fährt ein Zug wie eine Spielzeugeisenbahn über die Brücke. Ein Platz zum Verweilen.

Bäume halten den trockenen Sommern nicht merh stand und stürzen

In diese Idylle drängt sich eine düstere Beobachtung: Ich sitze da, trinke mein Schorle und schaue gedankenverloren in die Landschaft, in die Wälder. Je genauer ich hinsehe, desto deutlicher und häufiger fällt mir das helle Grau der abgestorbenen Wipfel und der dürren Bäume auf. Und auf dem weiteren Weg realisiere ich, wie viele Bäume im Wald gestürzt, gefallen sind. Sie liegen da, kreuz und quer, versperren da und dort auch den Weg, ich steige drüber, krieche unter ihnen durch, auch mal auf allen Vieren. Der Wald stirbt eben schon. Man sieht es deutlich hier. Er trocknet aus, wird schwach, fällt in sich zusammen. Man macht sich von rechts bis weit in die gemässigte Mitte lustig über die, die vor mehr als dreissig Jahren vom Waldsterben gesprochen haben. Und sie hatten doch recht: Er ist noch nicht tot, der Wald, aber er stirbt. Und zwar ziemlich schnell.

Dann werde ich das erste Mal auf dieser Wanderung tätlich angegriffen. Ein Hahn rast auf mich zu, weil ich wohl was falsch gemacht habe und hackt mir ins Schienbein. Ich trete ihn weg, er rennt davon und eine rundliche Frau lacht aus dem Gemüsegarten heraus. Es läuft was in Sachsen-Anhalt.

«Fährmann, hol rüber»

Die Brücke, der ich zustrebe, um jenseits der Saale über den Hügel nach Naumberg zu gelangen, ist nicht nur gesperrt, sie ist abgerissen. Weiter unten zeigt meine App ein Fähre an, die ich tatsächlich auch finde. Auf einem Zettel steht, man müsse in die nebenstehende Halle hineinrufen: «Fährmann, hol rüber!» Das tue ich, aber es geschieht nichts. Ein Mann sitzt neben der Halle auf einem Stuhl und fragt, ob ich über die Saale möchte. Das ist der Fährmann. Er zieht das Boot an einem Seil auf die andere Flussseite, wo ein riesiges Gradierwerk steht. Ich habe nicht einmal gewusst, dass es das Wort «Gradierwerk» gibt. Es ist so: Im Gradierwerk rinnt Wasser über eine mit Sanddornästen bestückte Wand herab und dabei bildet sich hochwertiges Salz für den Badekurort, der hinter dem Gradierwerk liegt.

Im Gradierwerk entsteht hochwertiges Salz für Solebäder
Wein mit Charakter

In Naumberg übrigens, einer farbigen Stadt mit Dom, repräsentativem Marktplatz, der von prächtig renovierten Häusern gesäumt wird, koste ich ein Glas des sächsischen Weins. Er wird angeboten als Wein vom 51. Breitengrad. Und er hat Charakter. Doch, doch, hat er.

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