Spur durch Deutschland, Erfurt, 24. Juli 2020. In Thüringen geben sich die rot-rot-grünen Koalitionspartner aufs Dach, jedenfalls die Rot-Roten. Erfurts Altstadt ist voller Baustellen, und ich höre, dass die Renovation eines Häuschens in der Turniergasse eine Million Euro kostet.
Das Erwachen in einem Plattenbau der ehemaligen DDR, in dessen drittem und sechstem Stock sich mein Hotel eingemietet hat, ist anregend. Kirchenglockenschläge höre ich keine, aber Motoren, die aufstarten oder sich aufwärmen. Dazu unterschiedliche Stile von Musik, der deutsche Rap dominiert arabische Weisen. Ganz viele Stimmen dringen aus den Drei- und Vier-Raumwohnungen in den anderen Stockwerken, plaudernde, aufgeregte, beruhigende.
Nach der Wende, so höre ich, habe man den einen oder anderen Häuserblock abgerissen, so dass jetzt grosszügige Grünflächen mit schon recht hohen Bäumen zwischen den acht- bis zwanzigstöckigen Bauten stehen und das Wohnen angenehmer machen. Ein Einkaufscenter mit verschiedenen Geschäften steht bei der Tramhaltestelle, wo es auch Zeitungen gibt, zum Beispiel die «Thüringische Landeszeitung». Da lese ich, dass der deutsche FDP-Chef Christian Lindner seinem Thüringer Parteikollegen und Landeschef Kemmerich nahelegt, bei der nächsten Wahl nicht mehr als Spitzenkandidat der FDP anzutreten. Dies, weil er sich im Februar mit Stimmen der AfD für drei Tage zum Ministerpräsidenten hat wählen lassen, was sogar im Ausland für Empörung sorgte. Lindners Empfehlung kommt hier allerdings nicht so gut an, weil er selbst in einer ersten Reaktion dem Parteifreund Kemmerich zur Wahl gratuliert hat. Man schätzt es einfach nicht, wenn sich ein Westler wie Lindner in Thüringens Angelegenheiten einmischt.
Die Fahrt in die Stadt ist lang und so lese ich auch, dass in der Landesregierung Stunk herrscht. Ministerpräsident Ramelow von der Linken, der dann nach Kemmerich kam, hat in einer Debatte dem AfD-Sprecher den Stinkefinger gezeigt und ihn im Nachhinein als «widerlichen Drecksack» bezeichnet. Das passt dem Innenminister nicht und der ist von der SPD und Koalitionspartner von Ramelow. Das sei kein guter Stil, sagt er. Und überhaupt übertrieben es die Linken mit ihren anhaltenden Attacken auf die Rechtsextremen, sagt der sozialdemokratische Innenminister. Natürlich häuften sich rechtsextreme Vorfälle, räumt er ein, aber man müsse erst die Polizei abklären lassen, bevor man Schlägereien als rechtsextreme Übergriffe deklariere. Das finden die Linken aber zum Schreien, weil sie überzeugt sind, dass die Polizei von Rechtsextremen unterwandert ist, wofür es ja tatsächlich auch Hinweise gibt, wie man den Zeitungen entnehmen kann. Ich schaue zum Tramfenster hinaus und sehe da und dort Glatzköpfe in Camouflage-Hosen und denke, dass da schon was gärt in Erfurt. Überhaupt zeigen, mit Kleidung, Frisur oder Emblemen, vor allem die jungen Leute deutlich, zu welcher politischen Haltung sie stehen.
Den äussersten Ring der Stadt mit den Plattenbauten habe ich hinter mir und fahre durch die Quartiere mit den zwei-, dreistöckigen Häusern, die im 19. Jahrhundert während der Zeit der Industrialisierung entstanden sind. Damals wuchs Thüringen, trotz wechselnder Zugehörigkeit zu Sachsen und Preussen, enorm und die Gründerzeit-Quartiere sind gross. Zum Teil sind die Bauten modernisiert worden, zum Teil lottern sie vor sich hin, stehen sogar leer, Kulturinstitutionen haben sich eingenistet, farbige Graffiti lockern das Strassenbild auf.
Beim Augustinerkloster steige ich aus, setze mich in einer Seitenstrasse in ein Café und stelle, während ich einen Kuchen esse, fest, dass hier niemand Maske trägt. Weder eintretende Gäste noch Personal. Man kennt sich. Alle sind freundlich und lächeln sanft. Ich lese die Zeitung fertig und sehe, dass ich in einem Restaurant der Christengemeinde gefrühstückt habe.
Erfurts Altstadt erscheint mir ein bisschen wie ein Kinderzimmer, das fahrig aufgeräumt worden ist. Alles ein bisschen durcheinander. Da gibt es pittoreske Strassenzeilen mit mittelalterlichen Riegelbauten und mittendrin erhebt sich ein nüchterner bis hässlicher Klotz aus den 60-er, 70-er oder 80-er Jahren. Viele Strassen sind aufgerissen und Baumaschinen stehen in den Gräben. Da und dort verfallen in einer malerischen Altstadtgasse Häuschen und Häuser, und als ich so einen Ort gedankenverloren anschaue, spricht mich ein Mann an und fragt, warum es mich in diese Gasse, die Turniergasse, verschlagen habe. Ich weiss es nicht, aber er erwartet auch keine Antwort und erzählt mir ungefragt, dass dieses eine grüne Haus, das da renoviert worden sei, einem Professor gehöre, der eine Million Euro hineingesteckt habe.
Zum Glück, sagt er, habe die DDR kein Geld gehabt, sonst hätte sie all die alten, wertvollen Bauten weggerissen und Klötze hingestellt. Nun bestehe die Chance, dass dank Leuten wie dem Herrn Professor die Altstadt allmählich wieder auferstehe. Der Mann heisst mich ein paar Strassen weiter zu kommen und zeigt mir das Gebäude der Universität, die 1392 ihren Betrieb als einer der ältesten Deutschlands aufgenommen haben soll, und immerhin so bedeutende Leute wie Martin Luther ausgebildet hat. Wenige Meter neben der alten Universität steht ein rotes Haus, in dem der Arzt von Martin Luther gewohnt hat. Er, der Arzt, sass mit dem Reformator in der holprigen Kutsche, die Luther dermassen durchgerüttelt hat, dass sich seine Nierensteine lösten. Danach weist mich der freundliche Stadtführer auf die roten Balken eines Fachwerkhauses hin, die mit Ochsenblut bestrichen wurden, um das Holz zu konservieren. In einer Seitengasse zeigt er mir eine Lokalität, in der es die besten Bratwürste Thüringens gibt, und dann bittet er mich zum grünen Haus, das der Herr Professor für eine Million renoviert hat, um mich auf ein weiteres Detail aufmerksam zu machen. In diesem Moment kommt aber seine Frau, die zwar auch sehr freundlich aber in grosser Eile ist, und ihn ganz dringend zu irgend einem Termin zerrt.
Hinter dem Bierstube mit den besten Bratwürsten, die wirklich recht fein sind, steht die älteste Synagoge Mitteleuropas. Sie hat das Dritte Reich nur überlebt, weil fast alle Erfurter Juden 1349 in einem Pogrom nach einer Pestwelle umgebracht und ihr Gotteshaus anschliessend als Lagerhalle und später als Gasthof mit Tanzsaal genutzt wurde. Die Nazis haben offenbar gar nicht gewusst, dass das Gebäude eine Synagoge war. Nun ist es ein Museum, das sehr eindrücklich die Geschichte der Judenverfolgung im 14. Jahrhundert und auch einen Schatz mit Schmuck und Münzen zeigt, den ein jüdischer Mann damals angesichts der drohenden Gefahr vergraben hat.
Ganz im Zentrum der Altstadt tummeln sich die Touristen in den immergleichen Souvenirläden und Eiscafés. Als Besonderheit gibt es zwei, drei Boutiquen mit thüringischen Spezialitäten, und ein Eisladen auf der Krämerbrücke, einem der Wahrzeichen Erfurts, bietet absolut biologische Produkte an. Die Leute stehen Schlange und merken gar nicht, dass sie auf einer Brücke stehen, weil sie links und rechts von Fachwerkhäusern gesäumt ist, die keinen Blick aufs Wasser zulassen.
Der Chic und der Glanz der malerischen Meile hört zwei, drei Häuserzeilen weiter ganz schnell auf. In einer Gasse nahe der Krämerbrücke reden zwei Frauen auf ein Mädchen ein. Es dürfte die Tochter respektive Enkelin der beiden sein. Sie erklären dem Kind, wie es antworten soll, wenn es von der Frau da drinnen befragt wird, damit es vier statt nur drei Essensgutscheine erhält. Und eine andere Frau steht vor dem «Pfennigpeiffer», einem Billigladen, und sagt zu ihrem Kind: «Und auf diesem Zettel steht alles drauf, was du für das Klassenlager brauchst.»