Spur durch Deutschland, Weissenburg – Pleinfeld, 11. Juli 2020. Weissenburg spielt im europa- oder gar weltweiten Wettbewerb um den schönsten Parkplatz in der obersten Liga, der 1. FC Nürnberg hingegen droht in die dritte abzusteigen und Markus Söder ist ein Grüner. Grüner als die Grünen sogar.
Am Freitagabend hat die Flagge des 1. FC Nürnberg vor meinem Zimmerfenster im Hotel «Brandenburger Hof» noch heftig im Wind geflattert – kein erhebender Anblick, so zerfetzt wie sie da oben hängt. Passt zum Zustand des Clubs, der heute mit einem knappen 2 : 0 – Vorsprung auswärts zum Relegationsspiel in Ingolstadt antreten muss. Der Journalist in den Weissenburger Nachrichten stuft die Chancen der traditionsreichen Nürnberger nicht gerade hoch ein. Er macht sich ein wenig lustig über den Vorstandsvorsitzenden Thomas Grethlein, einen Philosophen, der wegen der Covid-Vorschriften jeweils ganz allein im Stadion mitfiebert, mit Bier und Zigarre. Der Journalist fragt sich, ob Grethleins Dissertation «Reservate der Geltung. Untersuchungen zum Verhältnis von Transzendentalphilosophie zu Hermeneutik und Pragmatik» dem Club wohl Nutzen bringe.
Die Flagge flattert nicht mehr am Morgen. Sie hängt nass am Mast. Es regnet. Ich ziehe das Frühstück in die Länge, betrachte und zähle die Porzellan-Kaffeekrüge, die auf dem Ablagebord des Speisesaals aufgereiht sind. Weit über hundert dürften es sein. Die Sonne bricht durch, ich packe den Rucksack und schlendere durchs Städtchen, das sich «Grosse Kreisstadt» nennt, weil es über mehr Zuständigkeiten verfügt als andere Kreisstädte. Der weitläufige Stadtkern mit seinen historischen Gebäuden, die zum Teil schon im 13. Jahrhundert gebaut wurden und das auf einem Fleck, den die Römer einst besiedelt hatten – dieser Stadtkern mit seinen Stadtmauern, mit seinem gotischen Rathaus und den alten Häuserreihen sieht beeindruckend aus. Fielmanns Brillen werden hier verkauft, die Raiffeisenbank, das Café Venezia, Engeler Reisen und andere haben sich eingenistet. Ein paar Gasthäuser auch. Die meisten Leute kennen sich. Sie schlendern, mit und ohne Rollator, mit und ohne Kinderwagen, mit nichts als mit sich und grüssen einander, werfen sich einen Scherz zu. In einem Haus übt ein Trompeter Melodien, die an Kirchenlieder erinnern.
Das Leben spielt sich auf dem Gehsteig ab und an den Gasthaustischen, die sich da aneinanderreihen. Der grosse Platz aber, der gehört den Autos. Sie strotzen vor Pferdestärken, diese BMW, Mercedes, Audi, VW. Keine kleinen Kutschen. Sie nehmen den Platz ein, in der ganzen Länge und fährt mal einer weg, biegt ein nächster in die Lücke. Man hält auch an, wenn man einen Kumpel sieht, unterhält sich ein wenig und der Motor brummt kraftvoll. Einst galt der Basler Münsterhügel als teuerster Parkplatz Europas, dieser hier dürfte zu den schönsten gehören. Die grossen Parkplätze beim Schwimmhof oder beim Markthof draussen vor der Stadtmauer sind leer.
Nürnberg ist mein nächstes Ziel, der direkte Weg dünkt mich etwas laut: Schnellstrassen und Bahnlinien würden mich den ganzen Tag begleiten. Etwas linkerhand lockt ein See, der Brombachsee im Altmühl-Naturpark. Auf der Karte sieht er aus wie der kleine Bruder des Bodensees, der zwei Finger in den Westen streckt. Der Weg dorthin führt über unzählige Hügelkuppen, durch kleine Dörfer, die ganz lustige Namen haben: Schmalwiesen, Massenbach, Hörlbach, Tiefenbach. Menschen sehe ich selten, ich stelle nur fest, dass sie Bio-Eier verkaufen und Kucherl, einer ist im Geschäft mit Wasserbetten tätig, ein anderer baut Solaranlagen. Irgendwo weiden Ziegen, an einem andern Ort Esel. Manchmal setze ich mich auf eine Bank mitten im Dorf und höre in die Stille, lese die öffentlichen Anschlagbretter: Hörlbach plant den Aufbau einer Kinder-Feuerwehr.
Ramsberg am Brombachsee begrüsst mich charmant. «Af Ramschberch mouscht und wennscht verreckscht», steht auf einer Tafel am Dorfeingang. Ich würde auch gern was trinken, weiss aber nicht wo. Pensionen preisen Zimmer an, zu sehen ist kein Mensch. Die Bäckerei Kellenberger ist geschlossen, das Haus zur «Energiequelle» bietet Wellnesstage, Heilsteine, Raucherware, Quantenheilung, Reiki, Hypnose, Friseur und Massage. Ein Schiff hat unten am Steg angelegt, Touristen ziehen an mir vorbei. Ich bin wahrscheinlich im falschen Ortsteil gelandet und mache mich auf nach Pleinsdorf, knipse die vielen Segelbooten auf dem See, ein Mann hält inne, um nicht ins Bild zu laufen.
Er ist etwa sechzig, sportliche Figur, gewinnendes Lächeln und er erklärt mir das Wesen des Sees, der erst zwanzig Jahre alt ist und dessen Wasserspiegel im Moment noch einen halben Meter zu tief liegt. Es war schon schlimmer in den letzten Jahren. Im trockenen 2018 zum Beispiel. Im See liegen ein paar Dörfer, deren Bewohner umgesiedelt worden sind, und er dient dazu, Hochwasser aus der Donau und anderen Flüssen zu entschärfen, denn bei Schneeschmelze und heftigen Niederschlägen wird Wasser hierhin gepumpt. In Trockenzeiten geschieht das Umgekehrte: Dann speist man die Donau und den Rhein-Donau-Kanal mit Wasser, damit die Frachtschiffe fahren können.
Nein, Strom wird nicht produziert. Für den Strom baut man Windräder. Und Photovoltaik. Nun macht der Mann einen Schlenker ins Politische: Der Söder Markus, dieser Schlaumeier, hat in der Corona-Zeit wie ein Feldherr gegen das Virus gekämpft und hintenherum eine Gesetzesvorlage durchgeboxt, die verlangt, dass alle Dächer von Fabrikhallen mit Photovoltaik ausgerüstet werden. Ab nächstem Jahr auch alle Einfamilienhäuser. Der Söder Markus, CSU-Ministerpräsident, ist in Wirklichkeit ein Grüner. Grüner als die grünsten Grünen. Dabei ist Photovoltaik auf den Dächern nicht ungefährlich. Das gibt Strahlungen, Schwingungen, Wellen. Die Mikrowelle in der Küche muss man ja auch abstellen, da ist ein Totenkopf zur Warnung drauf. Wegen der Photovoltaik haben heute alle einen Hirntumor. Ob ich auch so viele Leute kenne, die einen Hirntumor haben? Auf meine Antwort wartet er nicht, geht direkt zu Ursula von der Leyen. Sie ist ziemlich schlau. 850 Milliarden Euro gibt sie mit beiden Händen aus, alles kommt in einen grossen Trichter und der Trichter hat nur einen kleinen Ausfluss, der alles ins gleiche Fass spült und dieses Fass – das sind die Banken.
Ringsum lachen die Leute, liegen am Ufer des Sees, unten paddelt eine Frau Stand-up. Als der Mann beim Satz angekommen ist «Wir werden zugedeckt vom Nichts», verabschiede ich mich, schreite aus und lasse das ausgelassene samstägliche Treiben auf mich wirken. In Pleindorf bieten alle Gasthöfe Schnitzel und dergleichen an. Das hatte ich schon! In der Pizzeria Teggiana kann ich Nudeln bestellen, Ingolstadt gegen den 1. FC Nürnberg steht unentschieden, aber die Ingolstädter drücken. Die Stimmung ist gespannt. Der Wirt mag nicht mehr hinsehen, die Gäste auch nicht. Da passiert’s: Zwischen der 53. und der 66. Minute schiessen die Ingolstädter drei Tore. Sie steigen in die zweite Liga auf, Nürnberg steigt ab. Die Haare des Wirts stehen zu Berge – wirklich, er hat sie hochgerauft. Des Vorstandsvorsitzenden Dissertation «Reservate der Geltung» erhält eine ungewollte Bedeutung.
In der 6. Minute der Nachspielzeit schiesst der 1. FC Nürnberg das 3 : 1 und bleibt oben. «In letzter Sekunde» sagt der Wirt. Er sagt es immer und immer wieder: «In letzter Sekunde.»