Spur durch Deutschland, Weimar, 26./ 27. Juli 2020. Ein grosser Teil des Kulturguts, das wir uns in der Schule – sei’s in der ganz normalen oder in einer höheren – angeeignet haben, ist hier in Weimar entstanden. Das zieht Touristen aus dem ganzen deutschen Sprachraum und auch der übrigen Welt an. Sie fotografieren intensiv.
Als erstes möchte ich an diesen beiden Tagen, da ich hier in Weimar bin, das Haus von Friedrich Schiller ansehen, als zweites das von Goethe. Aber zuallererst zieht es mich in eine Bar mit italienischem Namen, in der tatsächlich Italiener bedienen. Sie servieren guten Cappuccino. Auf der Strasse stehen Gruppen von Weimar-Besuchern, die daran sind, sich zurechtzufinden versuchen in dieser nicht sehr grossen Stadt. Sie stellen sich in unterschiedlich zusammengesetzten Formationen vor das dunkelgelbe Haus vis-à-vis und lichten sich ab, während ich mich auf dem Stadtplan kundig mache. Da dämmert mir – ich habe mein Croissant noch gar nicht fertig gegessen – dass dieses dunkelgelbe Haus, das als Fotokulisse dient, das Schillerhaus ist. Und dass ich auf dem Weg hierher am Goethehaus vorbeigegangen bin.
Nun ja, es wird einem schon ein bisschen schwindlig, durch die Gassen und über die Plätze mit all den illustren Namen zu gehen: Hegelstrasse, Schubertstrasse, Wielandplatz, Richard-Wagner-, Lisztstrasse, Herder-, Beethovenplatz, Haus der Frau von Stein, Liszthaus. Sie alle haben hier gewirkt. Die Tradition des grossherzoglichen Mäzenatentums im 18. und 19. Jahrhundert, vor allem in der Person des Grossherzogs Carl August von Sachen, hat Dichter und Denker nach Weimar gezogen und das Städtchen zum geistigen Zentrum Deutschlands gemacht. Wer in dieser Zeit nicht hier war, galt wahrscheinlich als so provinziell, wie wenn heute jemand sagt, er habe noch nie einen Nagel in New York oder L.A. eingeschlagen und nicht einmal in Berlin.
Carl August hat nicht alle gleich behandelt. Schiller zum Beispiel musste sein Haus selbst bezahlen, Goethe hat er’s geschenkt. Schillers Haus ist kleiner und so geh ich zuerst da rein. Es hat kaum Besucher und ich streife mehr oder weniger allein durch die Gänge und höre im Audioführer, was sich in den verschiedenen Räumen so abgespielt haben soll, wie die Familie Schiller gelebt und wo der Dichter seine Werke geschrieben hat. Oben in der Mansarde. Und dort stehe ich an seinem Schreibtisch, an dem er vor gut 200 Jahren zum Beispiel den «Wilhelm Tell» zu Papier gebracht hat. Die Sonne bricht draussen durch die Wolken ¬– es hat in der Nacht geregnet –, wirft Licht auf die Tischplatte, und ich bin ganz allein da oben, ein berührender Moment. Nicht einmal eine Aufsichtsperson ist da.
Drüben bei Goethe – nur zwei-, dreihundert Meter voneinander entfernt lebten die beiden und haben die Gegenwart des anderen anfänglich gemieden – ist das schon anders. Da stehen Leute an. Einige wollen einfach durchsausen, andere scheinen die Werke Goethes genau zu kennen und flüstern sich Sachkenntnisse zu, wenn sie zu zweit sind, oder schauen einfach sehr sachkundig in die Räume mit einem sehr verächtlichen Blick auf Leute, die wieder so ein Audiogerät am Ohr haben wie ich. Der Blick in Goethes Schreibstube oder auf das Bett, wo er gestorben ist, ist nur aus grosser Ferne möglich. Seine grosszügigen Gesellschaftsräume im Haus finde ich eher langweilig. In den Zimmern, wo er mit seiner Frau Christiane das profane Eheleben gelebt hat, verweile ich eher.
Man muss Abstand halten zu allen Gegenständen, sie sind hinter Glas, berühren verboten – was ja klar ist, wenn so viele Leute durchgehen. Die Dichterhäuser sind Museen geworden, wie überhaupt die ganze Stadt ein Museum geworden ist. Ein Museum mit Bewohnern, Läden, Restaurants, Hotels, Banken und Post. Ein schönes Museum wohlverstanden, mit vielen anderen Teilmuseen – für Liszt, für Kunst … Es sei gar keine Stadt, hat ein Dichter gesagt. Weimar sei ein Park mit einer Stadt drin. So ist es. Und das macht auch seine Besonderheit aus. Die Lust, darin zu verweilen.
Durch den Park an der Ilm spaziere ich am Nachmittag. Hier steht Goethes Gartenhaus. Auch das ein Geschenk von Carl August. Mit dem Grossherzog zusammen hat er einen Garten anlegen lassen, der den Idealen der damaligen Zeit entsprochen hat, aufgeteilt in Blumen- und Gemüsefelder, terrassiert, Buchshäge gliedern ihn. Auch hier habe ich das Glück, fast allein zu sein. Vielleicht weil die Fussbrücke über die Ilm gesperrt ist. Als ich vor dem Gitter stehe, kommt eine Frau strengen Schrittes heran, zieht das Gitter weg und geht durch. Ich sage «Aha, Sie kennen sich aus» und sie sagt ja, bedeutet mir, ihr zu folgen. Sie merkt an meinem Akzent, dass ich Schweizer bin und beginnt mich über Volksabstimmungen auszufragen. Das sei nichts für Deutschland. Die Leute seien nicht reif. Ausländerabstimmungen würden zu einer Katastrophe.
In Eisenach ist sie 1960 zur Welt gekommen, dort aufgewachsen, arbeitet in Weimar als Pädagogin. Bis jetzt hat sie nur Thüringen, Sachsen und Berlin gesehen. Weiter ist sie noch nie gereist. Die DDR hat sie in allen Facetten erlebt. Die Zeit vor der Wende war besser. «Wenn man frei war im Denken, war es gut, in der DDR zu leben.» Die Kunst sei freier gewesen, weil sie nur wenige verstanden hätten. Das Schlimme am Kapitalismus sei der Druck, den er auf die Leute ausübe. Sie können nicht mehr lachen. Jetzt, da alle Masken tragen müssen, sieht man das nicht mehr so gut. Dann sagt sie: «Hier müssen Sie rechts, da drüben ist Ihr Gartenhaus.»
Wie gesagt: In Goethes Gartenhaus bin ich wieder fast allein. Auf einem Tisch, hinter Glas, liegt die handgeschriebene Niederschrift vom «Erlkönig». Später, mitten im Park, spricht mich ein Aufseher an und fragt, ob ich nicht die Parkhöhle besuchen wolle, einen mehrere hundert Meter langen unterirdischen Gang, der einerseits natürlich entstanden sei, andererseits durch Goethe, der unter dem Grossherzog auch Bergbauminister gewesen sei, ausgebaut wurde. «Der Goethe hat seinem Carl August gesagt, man müsse die Stollen ausbauen, um eine Brauerei zu bauen», sagt der Aufseher. Für die Stollen habe das Geld gereicht, für die Brauerei dann nicht mehr.
Der Stollen hat gegen Ende des Zweiten Weltkriegs während der amerikanischen Bombardierungen eine wichtige Rolle als Unterstand für die Weimarer Bevölkerung gespielt. Jetzt zeigt eine Ausstellung, wie schlimm die Zerstörungen in der Stadt waren. Weimar war von der Kulturhauptstadt des 19. Jahrhunderts zu einem Zentrum der Nazis geworden. Hitler wollte die deutschen Geistesgrössen vereinnahmen, war über 40 Mal in der Stadt, hat das schreckliche Gauforum bauen lassen, drei rechtwinklig zueinander stehende Machtbauten – und die Leute haben ihm zugejubelt. Sie haben NSDAP gewählt. Kulturtradition hin oder her, Weimar wurde zur Nazi-Hochburg.
Nachdem sie die Amerikaner eingenommen und einen «Platz der Demokratie» vor der Franz-Liszt-Hochschule zurückgelassen haben, teilten die Aliierten Weimar der sowjetischen Zone zu. In der DDR-Zeit hütete die Stadt seine Kulturschätze ordentlich und machte sie auch westlichen Besuchern zugänglich. In der «Friedlichen Revolution» 1989 spielte Weimar keine zentrale Rolle, die Musikstudentinnen und -studenten der Liszt-Hochschule machten zwar von sich reden, als sie sich ein Jahr vor dem Mauerfall weigerten, in FDJ-Hemden für die Freie Deutsche Jugend zu musizieren. Aber erst spät muckte die Bevölkerung gegen das marode System auf, Emde Oktober 1989. Auf einer Gedenktafel auf dem Platz der Demokratie wird das heute in Erinnerung gerufen, ein Paar steht davor, liest und die Frau seufzt: «Dafür haben sie jetzt Berlin.»
Nach Goethe, Klassik und Musik blühte Weimar vor hundert Jahren nochmals auf. Kurz bevor die Nazis an die Macht kamen, ist mit dem Bauhaus wieder etwas Neues entstanden. Architektur, Handwerk, Kunst sollten neu erfunden werden, Ateliers entstanden, Künstler aus der ganzen Welt zogen her. Kühl sieht die neue Welt aus, funktional – alte Bilder, Rollenbilder, Herrschaftstrukturen, Geschlechterhierarchien werden hinterfragt. Doch die Nazis fegen das Bauhaus weg, es lebt in Amerika neu auf. Im Bauhaus Museum schaue ich das alles an. Wegen Corona herrschen strenge Sitten dort. Man kann nicht gehen, wo man will, darf erst in den nächsten Raum, wenn es die Aufseher gestatten. Sie schauen streng, herrschen die Besucher an, barsch, stehen in weissen Hemden, schwarzen Gilets in Ruhnstellung – ein Hauch von DDR weht in den kühlen Räumen.
Doch vor dem Schiller-Goethe-Denkmal auf dem Theaterplatz herrscht ausgelassene Stimmung. Tangomusik erschallt und Canyengue. Die Leute tanzen.