Spur durch Deutschland, Koblenz – Erzingen, 15. Juni 2020. Die Grenze ist wieder offen und im Engel in Rheinheim die Gartenwirtschaft grad auch. Die Serviererin notiert den Zeitpunkt der Ankunft, 12.15 Uhr, und bittet uns, die Namen auf dem Zettel einzutragen. Uns? Die nächsten zwei, drei Tage sind wir zu zweit unterwegs.
Rita rät, dem Rhein entlang nach Zurzach zu wandern, nicht über den Achenberg. Auch wenn der Weg über den Hügel kürzer sei. Es steige ziemlich an und gehe dann auch wieder steil hinunter. Ich möchte ihren Rat in den Wind schlagen, habe nun genug Wasser gesehen in den letzten Tagen. Nun möchte von mir wie von allen ihren B&B-Gästen ein Foto fürs Gästebuch machen, ich lächle freundlich in die Kamera und bitte um Gegenrecht:
ein Bild für diesen Beitrag. Wir plaudern etwas ausführlich beim Frühstück, was den Ausschlag gibt, doch den kürzeren Weg über den Achenberg zu gehen, weil ich um elf einen Termin in Zurzach habe. Ja, einen Termin.
Es steigt tatsächlich ziemlich an auf den Achenberg, mein Wegweiser-App führt mich durch dichtes Dickicht, das sich unvermittelt vor einer Kirchenbestuhlung lichtet. Vor der Loreto-Kapelle stehen Bänke im Freien, ein paar mächtige Bäume und ein Kreuz. Hierher pilgert man, so heisst es, wenn man langwieriges Siechtum beheben möchte. Ich denke an meine Füsse, besinne mich aber, dass sie erst seit vier Tagen schmerzen. Es ist halb elf. In einer halben Stunde sollte ich am Zurzacher Bahnhof sein.
Dort wartet Richard. Er wartet ein ganzes, kleines Weilchen, aber das Wartenkönnen zeichnet Bummler aus. Wir begrüssen uns, überlegen, wo wir durchwollen und suchen erst mal einen Bankomaten auf. Bald schlägt es Mittag – ein guter Zeitpunkt, um Deutschland zu betreten. Man hält sich, das fällt uns sofort auf, genauer an Corona-Regeln als in der Schweiz – der Meldezettel in der Gartenbeiz erstaunt doch sehr. Wir besprechen die Route für den heutigen Tag, ziehen dem Klettgau entgegen, erst auf Teerwegen, bis uns die Füsse brennen und da kommt auch eine Forstwartin daher, die uns zeigt, wo Wanderpfade durchführen.
Die Landschaft wird weit, die Dörfer stattlich, ordentliche Vorgärten und Fassaden, ja es ist alles so gepflegt hier, aber wir achten kaum darauf, weil Richard grad eben Thomas Pikettys Kapital fast zu Ende gelesen hat, jedenfalls schon über Seite 1000 hinaus gekommen ist und nun sehr viel über Ungleichheit und Demokratie und zwar in den USA und China und Frankreich, Deutschland, Iran und ich weiss jetzt grad auch nicht mehr, wo sonst noch, weiss. Das ergibt lebhafte Erörterungen, Diskussionen, Fragen, Einwände, die aber nicht sofort behoben, beantwortet und belegt werden können, weil das Buch ja sehr, sehr ausführlich ist und manchmal auch kompliziert und man es vor sich haben müsste, besonders wenn der eine es gelesen hat und der andere nicht.
Der Weg führt bergauf, bergab, heftig bergauf nach Bechtersböhl, wo ein Rentnerpaar auf E-Bikes uns talwärts entgegenrast. Wir treten zwar zur Seite, aber für den vorneweg rasenden Ehemann nicht schleunig genug und er donnert uns auf gut Züritütsch an: «Ihr gottverdammten Arschlöcher, könnt ihr nicht zeitig aus dem Weg gehen!» Der freundliche Schweizer. Dann wieder Piketty, später Erinnerungen an unsere Zeit im Bundeshaus, Austausch von Rezepten für Holundersirup, Ideen für Geschichten, die man schreiben müsste und an einer Wegkreuzung setzen wir uns nieder, schwatzen weiter und sehen, dass der Weg noch weit ist.
Eine Frauengruppe mit Walking-Stöcken lärmt heran, hält inne, als sie uns so dasitzen sieht und gibt widersprüchliche Tipps, wie wir am besten Erzingen erreichen können. Vorn taucht der Kirchturm von Geisslingen auf, wo wüste Träume von Eigenheimen Realität geworden sind, die Leute aber alle freundlich grüssen und zwei Kinder uns Kirschen aus einem Korb anbieten.
Erzingen erscheint uns ziemlich trist, im «dm» tragen alle Masken und die maskierte Kellnerin im Shanghai-Hotel sagt, wir sollen das 49 Euro teure Zimmer gleich sofort zahlen, denn morgen früh sei niemand da. Wir sind überwältigt von der überschäumenden Herzlichkeit. Es gebe kein Frühstück, wiederholt sie. Den Zimmerschlüssel sollen wir in den Briefkasten werfen. Kaffee gäb’s hinter der Bahnlinie im Fressnapf.