Spur durch Deutschland, Stadtilm – Erfurt, 23. Juli 2020. Der Morgen beginnt mit einem Gedicht von Goethe, Weimar ist ja nicht mehr fern. Reimende Lieder dann am Nachmittag und enden tut der Tag in einer Plattenbau-Siedlung.
Der Vater von Frau Korte hatte vor fast 20 Jahren hin und wieder geschäftlich in der Gegend von Stadtilm zu tun, und zwei, drei Mal hat sie ihn begleitet und Gefallen an diesem dunkelgelben Haus an der Hauptstrasse gefallen. Um 1900 gebaut, war es erst ein Hotel, während der DDR-Zeit ein Wohnhaus und nach der Wende stand es eine Weile leer. Frau Korte hat es gekauft, obwohl sie ein Leder-Atelier in der Pfalz führt, und wieder ein Hotel daraus gemacht. Das ist nun seit 17 Jahren so. Im Innenhof steht der Ginkgo-Baum, der dem Haus den Namen gegeben hat, und über dem Frühstückstisch lese ich, was sich Goethe zum Ginkgo hat einfallen lassen. Über die Bedeutung des tief eingekerbten Laubblattes sinniert er reimend: «Sind es zwei, die sich erlesen,/ Dass man sie als eines kennt?/ Solche Fragen zu erwidern/ Fand ich wohl den rechten Sinn./ Fühlst Du nicht an meinen Liedern,/ Dass ich eins und doppelt bin?»
Das ist recht viel Poesie auf nüchternen Magen, aber Frau Korte hat den Tisch reichlich gedeckt. Der Frühstücksraum ist eingerichtet wie eine englische Teestube, das Zimmer erinnert an ein schottisches B&B und der Innenhof an einen italienischen Patio. Alles sehr geschmacksvoll und persönlich. Zusammen mit einer Frau aus der Gegend führt Frau Korte das Hotel, eine Woche ist sie hier im Osten, die darauffolgende arbeitet ihre Kollegin. Dann fährt Frau Korte in die Pfalz, arbeitet im Lederatelier, 400 Kilometer sind es, aber «ich hänge an diesem Haus». Sie drückt mir einen Stempel in mein Notizbuch, der besagt, dass ich den Pilgerweg der starken Frauen, der zum nahegelegenen Kloster Paulinzella führt, ein Stück weit gegangen bin. Nur habe ich das gar nicht bemerkt.
Mein nächstes Ziel ist Wüllersleben und danach Bösleben. Dauernd muss ich riesigen Traktoren ausweichen. Hier wird in althergebrachter Kolchose-Manier Landwirtschaft betrieben. Auf den endlos wirkenden, frisch geernteten Getreideäckern bringen Lohnarbeiter und Angestellte der bäuerlichen Genossenschaften Gülle und Mist unter. Rasen sie mit ihren mächtigen Maschinen und Geräten über die Felder und Wege, ziehen sie bei diesem trockenen Wetter eine Staubfahne hinter sich her, die langsam vom Wind weggetragen wird. Gegen Mittag fahren diese Ungeheuer zum Dorf, die Männer steigen aus, marschieren zum Genossenschaftshaus, wo eine Kantine betrieben und das Mittagessen serviert wird. Wüllersleben und Bösleben sind herausgeputzte Dörfer, die Fassaden nicht mehr mit düsterem Schiefer bedeckt wie im Thüringer Wald. Fachwerkbauten, Steinhäuser und alle in heiteren Farben sehen aus, als blättere man in einem Kinderbuch der 50er Jahre. Die Strassen sind neu gepflästert oder geteert und wo das nicht der Fall ist, stehen Baumaschinen, um es demnächst zu tun. Die Leute, die ich treffe, sind nicht sehr gesprächig hier.
Auf einer Ruhebank lege ich mich zu einem Mittagsschlaf hin und erschrecke derart über ein Geplauder neben mir, dass die Plaudernden auch grad erschrecken. Er ist ein Hesse, sagt er, und als ich die schönen Dörfer erwähne, nickt der Mann: «Man macht ihnen alles neu.» Im Autoradio hat er gehört, dass die EU am Gipfel beschlossen hat, dem Osten weitere Milliarden zu spendieren. Mit «Osten» sind die neuen Bundesländer gemeint und irgendwie dünkt mich, dem Mann aus Hessen passe das nicht.
Er und seine Frau kommen seit der Wende jedes Jahr im Juli eine Woche hierher, weil sie im Juli geheiratet haben. Die Frau ist in diesem Landkreis aufgewachsen, wollte Ärztin werden, durfte aber nicht. Sie ist auch seine Cousine und um ihr das Studium zu ermöglichen, hat er sie geehelicht. Sie durfte dennoch nicht ausreisen, aber aus irgendeinem Grunde plötzlich schon, ich habe nicht verstanden warum, und die Frau respektive Cousine bremst ständig: «Jetzt ist dann auch genug.» Einmal sagt er: «Es war eine Zweckehe, aber besser als viele andere.»
Lange Zeit spaziere ich einem Bach entlang, der Wipfra heisst, meine Flaschen sind leergetrunken und ich hoffe, einen Gasthof, einen Laden oder wenigstens einen Brunnen zu finden. In Kirchheim steht der «Schwarze Hahn». Er ist offen, ich ziehe die Maske an, aber in der Gaststube sitzt kein Mensch. Hinter dem Haus ertönt Männergesang, ein Pfeil zeigt in den «Biergarten», doch dort ist nur ein Teerplatz mit einem Zelt und einer Runde Männer, die in Lachen ausbrechen, weil ich die Maske trage.
Der Wirt bringt mir ein Apfelschorle und die Männer überbieten sich in lustigen Sprüchen über eine Getränketafel aus den 70-er Jahren, die der Wirt beim Aufräumen gefunden hat. Sie sind überhaupt sehr lustig drauf und singen Lieder in der Art: «Junges Mädchen schön und schlank, putzt die Fensterscheiben blank, … » Wie’s weitergeht, ist schon klar. Sie singen auch: «Ein Mann muss nicht immer schön sein, darauf kommt es gar nicht an …» In den Gesangspausen fragen sie mich nach meinem Weg und einer sagt: Wenn du in Berlin bist, sag der Angela, was sie zu tun hat. Ich frage, was ich ihr ausrichten soll. Ach! Eigentlich kann man da nichts mehr zurechtrücken, sagen sie, da steckt schon alles in der Scheisse.
Sie brechen auf und der Wirt setzt sich zu mir. Er hat viele Jahre als Caterer für Konzert-Staffs gearbeitet. Für die Staffs von Udo Jürgens, Grönemeyer, Bon Jovi und anderen. Die Staffs haben Bühnen aufgebaut, abgebaut, er hat gekocht und nachts sind sie in die nächste Stadt gefahren. «Ich war überall in Europa. Hab aber nur die Hallen gesehen.» In seinem Dialekt klingt «Hallen» wie «Höllen». Wenn keine Tournée war, hat er während der Messen in Basel im Swissôtel gearbeitet. Gutes Geld gemacht. An der Baumesse, Baselworld.
Seit anfangs Jahr ist er Pächter des «Schwarzen Hahn». Sieben Tage offen, er macht alles alleine. Auch kochen, denn er ist ja Koch. Er findet aber niemanden, den er einstellen kann. Er würde einen guten Lohn zahlen, aber keiner kommt. Auch keine Frau. Sobald hier einer ein Auto hat, ist er weg in Erfurt. Und Ausländer gibt es auch keine hier, nicht einmal Flüchtlinge. Ebenfalls alle in Erfurt. Keine Chance hier. Corona hätte ihm das Genick gebrochen, aber der Bürgermeister hat gesagt, er erlasse ihm die Miete – und zwar ganz. Der «Schwarze Hahn» gehört der Gemeinde. Da hat er Glück gehabt.
Anders als in Erfurt, sagt der Wirt. Dort haben die Westler nach der Wende alles aufgekauft und verpachten nun die Restaurants für teures Geld. Sechs-, siebentausend pro Monat. Und jetzt, während der Pandemie, tun sie grosszügig und stunden den Zins. Aber was soll denn das? Stunden? Die Wirte werden den Westlern das Geld schulden, bis sie den letzten Cent zurückbezahlt haben. Das wird ihnen das Genick brechen. Der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht. Man schlachtet nicht die Kuh, die man melkt. Aber die Westler können den Hals nicht vollkriegen.
Zwei Maurer kommen, um eine Mauer zu flicken. Eine gute Gelegenheit für meinen Aufbruch. Der Wirt sagt den beiden, dass ich nach Berlin wandere. «Ist gut», sagt der eine, «da geht’s nur abwärts.» Berlin, wo die Regierung sitzt, ist ganz unten. Ein leichter Groll auch in diesen Worten, wie der Staub von den Feldern liegt er hier über allem.
Ich bin etwas zu lange gesessen. In einem der Vororte von Erfurt steige ich in den Zug und lasse mich die letzten sieben Kilometer in die Stadt fahren. Das Tram führt mich in die Rieth, wo ich ein Zimmer reserviert habe. Ringsum Plattenbauten, über denen jetzt eine dünne Mondsichel aufgeht. Weit und breit kein Restaurant, aber der junge Mann an der Réception bietet mir einen Toast mit Pommes an. Ist gut für heute.