Ein bisschen lebt es noch, das Urlauberwohnheim

Spur durch Deutschland, Eisfeld – Neustadt am Rennsteig, 21. Juli 2020. Zwei ältere Damen schimpfen über Westpakete, bevor ich mich in den Thüringer Wald aufmache und in einem ehemaligen Urlauberwohnheim einen Teller Hühnergeschnetzeltes mit Karotten und Kroketten für neun Euro am Schöpftisch fasse.

Der Thüringer Wald erinnert an voralpine Landschaften, gewisse Bewohner auch

Das altehrwürdige Hotel «Schaumberger Hof» in Eisfeld hat noch andere Gäste und dünkt mich ziemlich hellhörig. Ein Hund ist einquartiert, Kinder irgendwo auch und in einem anderen Zimmer könnten durchaus neue entstehen. In der Netto-Filiale nebenan gebe es Frühstück, hat die Wirtin gesagt, und bevor ich abreise, möge ich bitte die Hoteltüre abschliessen und den Schlüssel in den Briefkasten werfen. Meinen Namen hat sie nicht notiert. Sie war effizient, hat die 35 Euro kassiert und ist entschwunden. Beim Eingang der Netto-Filiale steht tatsächlich eine Bäckerei-Theke, links und rechts zwei Stehtische, die besetzt sind. Ich setze mich mit meinem Kaffee und einem Streuselkuchen auf den Sims neben der Drehtür, was aber den beiden Damen an dem der Stehtische nicht passt. Das sehe ungepflegt aus.

Ich setze mich zu ihnen auf den dritten Hocker und erfahre, dass es tatsächlich keine Gaststätte mehr gibt in ganz Eisfeld. Der Schaumberger Hof war eine feine Adresse und das Essen vorzüglich. Aber nun kocht die Wirtin nicht mal mehr. Es zahlt sich nicht aus – und wenn ich die beiden Damen richtig verstanden habe, soll ein Streit des Besitzers mit irgendwem das baldige Ende unausweichlich machen. Sie schauen sich vielsagend an. Dabei stiegen hier früher, als Eisfeld noch Sperrgebiet war, feine Herren ab. Und dann – ich glaub es nicht! – beginnen sie von der DDR zu schwärmen. Ich habe gedacht, das gibt es nur in Fernseh-Dokfilmen.

So schlecht war es damals gar nicht. Nein, Apfelsinen und Bananen kannten sie kaum. Aber Zitronen, die hatten sie immer. Die Mieten waren günstig, 50 Mark für eine kleine Wohnung, und die Masern ausgerottet. Heute kommen die Impfgegner und die Masern sind wieder da. Der Westen habe sich über die Kinderkrippen lustig gemacht, sagt die eine der beiden und die andere pflichtet bei. Aber in der DDR gingen die Zweijährigen aufs Töpfchen, im Westen tragen die Vierjährigen noch Pampers. Wenn man keinen Westkontakt hatte und keine Westpakete bekam, war man zufriedener. Man wusste gar nicht, was einem fehlen könnte. Die eine sagt, dass sie allerdings schon gern Nylonstrümpfe gehabt hätte. Die Unterschiede zwischen arm und reich seien viel grösser geworden, sagen sie und da muss ich ihnen beipflichten.

Die beiden wünschen mir eine gute Reise, und bereits auf dem Weg ins nächste Dorf fällt mir auf, was auch noch anders geworden ist in Thüringen. Die Felder – oder Fluren, wie die Leute sagen – sind grösser geworden. Eine Weizen-, eine Mais- oder auch eine Grasfläche wirkt schier endlos. Früher bewirtschafteten grosse Genossenschaften das Land, erklärt mir einer, der seinen Rasenmäher flickt, und heute arbeitet man eben in diesen Strukturen weiter.

Statt religiöse Wegkreuze säumen praktische Wegweiser die Strassen

Und der nächste Unterschied zu Bayern: All die Wegkreuze und frommen Zeichen an Häusern und in Gärten, all die religiösen Symbole sind verschwunden. Da und dort noch eine Kirche, aber damit hat es sich. Das hat aber nicht nur mit der alten DDR zu tun, sondern auch damit, dass die Gegend evangelisch ist.

Waffenteile in Heimarbeit aus Waffenrode

Dann ist fertig mit derlei Betrachtungen, der Aufstieg auf die Höhen des riesigen Thüringer Walds beginnt. Ein schönes Wandern, wenn auch stetig bergauf. Waffenrode ist das erste Dorf, das ich erreiche. Es liegt hoch über der Ebene, wo die Autobahn durchführt, die Wiesen sind mager, es weiden Schafe und Ziegen, Tannen säumen den Weg, die Landschaft erinnert mich an den Jura, an den Schwarzwald auch. Alles ist plötzlich sehr ländlich, fast voralpin geworden. Das Harz der Tannen und die Nadeln duften. Waffenrode liegt weitab der Ortschaften dort unten, und ich frage mich, wovon die Leute hier gelebt haben, nachdem die grossen landwirtschaftlichen Genossenschaften der DDR die kleinen Bauern überflüssig gemacht haben. «Heimarbeit», erklärt mir einer. Der Name «Waffenrode» sagt es: Die Leute haben vor der Wende für die Waffenfabrik Haenel Suhl Einzelteile hergestellt. Jagdgewehre, auch andere. Es gab auch viele kleine Einzelmanufakturen, die zum Beispiel Büchsenöffner oder solche Sachen produzierten. Und Glasblasen hat eine lange Tradition.

Pistenfahrzeug beim Skilift Esteberg in der Sommerpause

Die Häuser in den Dörfern, auch später in Masserberg, in Neustadt sind mit dunkelgrauen Platten aus dem nahen Schiefergebirge bedeckt, die Ortschaften wirken etwas düster auf den ersten Blick. Die DDR gewährte den Werktätigen Urlaub auf den Höhen des Thüringer Walds, die Tradition lebt weiter, die Dörfer leben vom Tourismus. Im Winter mit Langlaufloipen und Skiliften. Im letzten Winter war der Schnee etwas matschig, sagt die Wirtin von der Triniusbaude am Rennsteig.

Weg auf dem Rennsteig mit Aussichtsturm

Stundenlang gehe ich auf diesem Rennsteig, ein wunderbarer Wanderweg über 170 Kilometer, der über den Thüringer Wald führt und Franken von Thüringen trennt. Unzählige Sagen begleiten ihn, Grenz- und Gedenksteine, Mahnmale säumen ihn. Er habe eine Seele, erzählt mir ein Thüringer und ich muss es ihm glauben. Mich führt der Rennsteig in Neustadt ins Hotel Kammweg, einen Bau, der im Jahr 2000 anstelle des früheren DDR-Urlauberwohnheims erstellt worden ist – mit Bad und Sauna.

Bad und Sauna öffnen um 10 und schliessen um 18 Uhr. Der Geist des Urlauberwohnheims lebt weiter: Kein unnötiger Luxus. Gegessen wird in zwei Schichten – von 17.30 Uhr bis 18.30 Uhr und die zweite eine Stunde später, beide im Kantinenbetrieb mit zwei Menus: eines mit Rind-, das andere mit Hühnerfleisch. Der Teller kostet neun Euro, für achtzehn darf man beliebig oft nachfüllen lassen und erhält Salat und Dessert. Auch Frühstück essen die Gäste in zwei Schichten. Um 21 Uhr wird der Haupteingang geschlossen, um 22 Uhr der Lift abgestellt. Die Gäste sind alle sehr ordentlich hier. Das Leben hat nicht alle auf Rosen gebettet, man sieht es ihnen an. Die Männer tragen T-Shirts und kurze Hosen, da sie ja im Urlaub sind, und die Frauen ziehen sich schön an für den Speisesaal. Die Aussicht ist betörend, Neustadt liegt 800 Meter über Meer und vor der Fensterfront tut sich die ganze endlose Weite auf.

Endlose Weiten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert