Spur durch Deutschland, Erlangen – Forchheim, 15. Juli 2020. Im «Schweizer Grom» in Forchheim versteht der kleine Stammtisch nicht, wieso ich Erlangen schön gefunden habe. Denn etwas wirklich Besonderes ist Forchheim: Der Landkreis hat die grösste Brauereidichte der Welt, dazu einen Bierweg und das Annafest. Es fällt dieses Jahr leider aus.
Kommt man vom Main-Donau-Kanal her nach Erlangen, steht man plötzlich auf einer Art Schachbrett. Ich habe zwar überhaupt keine Übersicht über die Stadt, aber die Strassen verlaufen so parallel und rechtwinklig zueinander, dass mich dünkt, zwei Riesen könnten da ihre Springer und Bauern und Damen von Geviert zu Geviert und über die Gevierte hüpfen lassen. Die Häuserreihen sind zwei-, höchstens dreistöckig. Sie sind im 18. Jahrhundert erstellt worden und sehen so ordentlich aus, dass man aus allen offenen Fenstern ein Mozärtchen zu hören erwartet.
Der Mittwochabend lädt zum Bummeln und während ich bummle, denke ich: Wenn ich nochmals jung wäre, dürfte es durchaus hier sein. Eine Jugend schlendert da durch die Strassen, grösstenteils unbeschwert, scheint mir, die an der Uni studiert oder in der Fahrradwerkstatt jobbt oder buchbindet im schönen Atelier, in einer der Sprachschulen lernt oder lehrt, in der Yoghurt-Bar etwas Gesundes isst, die Casa Verde besucht, in der Kaffeerösterei aushilft und im Dritt-Welt-Laden, wo keine Reklame in den Briefkasten darf, eine faire Banane kauft. Es gibt Galerien, Buchläden und alles, was zu einem guten Leben gehört, und trüben eine Sorge das Gemüt, kann sie in einer der vielen Praxen wegpsychotherapiert werden. Die kulinarische Welt präsentiert sich mit Häppchen-Burger, Extra-Vergine-Pizzen und Good Hiro, wo es japanischen Köstlichkeiten zu günstigen Preisen gibt. Erlangens Innenstadt erscheint mir als heiterer Campus in barocker Kulisse. Es ist reizend, hier einen Abend zu verbummeln.
Am Morgen prasselt Regen ans Fenster des «König Humbert», wo ein Zimmer für weniger als 40 Euro zu haben ist. Die Wirtin entschuldigt sich, dass sie keinen Kaffee anbieten kann, weil ihr Frühstücksraum zu klein ist, um den Corona-Vorschriften zu genügen. Ich zeige volles Verständnis, gehe zwei Strassen weiter, wo mich ein Kellner Covid-vorschriftsgemäss empfängt und an einen Tisch führt. Den Meldezettel muss ich nicht selbst ausfüllen, er nimmt meine Personalien auf, als ob ich eine Klinik eingetreten wäre. Für den Kaffee braucht er dann sehr viel Zeit, weil noch andere Patienten ankommen. Ein goldener Buddha steht neben mir, leise Musik schwebt durch den überdeckten Innenhof, die Leute führen gedämpfte Gespräche und blicken im Gegensatz zum gestrigen Abend besorgt. Vielleicht dünkt’s mich nur, weil es regnet oder weil ich nun wirklich endlich gern einen Schoggigipfel bestellt hätte. Aber das geht nicht, weil die Bedienung wahnsinnig stark mit irgendwas beschäftigt zu sein scheint – nur nicht mit Bedienen. Ich klopfe dem Buddha auf die Schultern und bedanke mich für die Ehre, hier Gast gewesen sein zu dürfen.
So gehe ich durch den Regen über die Strasse in ein Gasthaus, wo auch die Hotelwirtin sitzt, die mir keinen Kaffee anbieten konnte. Sie erzählt mir, was für eine Katastrophe die Corona-Verordnung für ihren Betrieb bedeute. Kaum noch Gäste! Sie hat fast alle Geringfügig-Beschäftigten entlassen müssen und die erhalten keine Entschädigung vom Staat. Die Festangestellten schon und die hat sie auch nicht entlassen. Die Geringfügig-Beschäftigten sind die, die im Gastgewerbe, im Friseurladen oder in ähnlichen Jobs für 450 Euro im Monat arbeiten. Anstellungen bis zu 450 Euro werden bei Steuern und Krankenkasse gesondert behandelt. Sie sind ideal für Studenten, für jene Hausfrauen, die etwas Zubrot verdienen müssen, weil sie dann etwas mehr Geld zum Leben zur Verfügung haben, auch wenn’s immer noch nicht reicht. Die kommen jetzt alle unter die Räder. Wieviele Stunden die Geringfügig-Beschäftigten für ihre 450 Euro arbeiten müssen, ist nicht geregelt. «Kommt auf ihr Verhandlungsgeschick an», sagt die Wirtin. 9.85 ist der Minimalstundenlohn, gibt 45 Stunden. Aber sie zahlt mehr als 13 Euro – «hab schliesslich selbst mal Zimmer gemacht».
Es regnet immer noch, ich breche trotzdem auf. Verlasse das ordentliche Erlangen. Hier gibt’s nur einen kleinen Gürtel, in dem Integration stattfindet, dafür steht am Ausgang neben einem Dönerstand ein Hotel «Grauer Wolf». Ausserhalb der Stadt dann Mietskasernen, wo viele dieser Geringfügig-Löhne nun wohl fehlen werden.
Es nieselt, regnet, regnet wieder, die Sonne bricht durch und es fällt Schauer. Manchmal setze ich mich auf eine Bank am Kanal, den Regenschutz über mir und über dem Rucksack, einmal koche ich mir einen Kaffee. Schiffe fahren keine, auch keine Boote. Im Forchheimer «Schweizer Grom» ist jenseits der Strasse noch ein Kellerzimmer frei, die Kellnerin reicht mir den Schlüssel und sagt, wenn ich essen wolle, dann gäb’s hier was.
Als ich später in die Gaststube trete, sind alle Tisch besetzt. Der Wirt, er heisst Heinz, holt mich an den Stammtisch, bringt mir ein Bier und sagt, er habe mir ein Schäufele mit Bratkartoffeln bestellt. Ich nicke, besser hätt’ ich’s auch nicht gekonnt. Das Schäufele ist ein schrecklich grosses und angebratenes Stück Fleisch mit einem Knochen dran, einen Teller Salat erhalte ich auch und die beiden anderen Gäste am Stammtisch, eine Ehepaar von grad nebenan, schauen prüfend zu, was ich mit der Bescherung anstelle.
Von ihnen erfahre ich, dass «Schweizer Grom» auf deutsch «Schweizer Graben» heisst. Das hat mit der Fränkischen Schweiz zu tun hat, die gleich drüben hinter Forchheim beginnt. Dass ich Erlangen schön gefunden habe, können sie nicht begreifen. Forchheim sei schön, allenfalls auch Pappenheim. Aber Erlangen! Was denn der Quadratmeter Land in der Schweiz koste, will der Ehemann wissen. Hier in Forchheim steigen sie Preise total verrückt in die Höhe. Schuld ist Siemens. In Forchheim baut Siemens Computertomografen für die ganze Welt und das zieht Ingenieure und Fachkräfte an, die mit ihren horrenden Löhnen das ganze Preisgefüge durcheinanderbringen.
Wir stossen sowohl bei der Landpreisfrage als auch bei der darauffolgenden Diskussion über die Unterschiede von Krankenkassen oder Alkoholgehalt von Bieren zwischen der Schweiz und Deutschland immer wieder an den Punkt, wo wir Wissenslücken haben. In solchen Momenten greift die Frau zum Handy, fragt Siri und dann reden wir weiter. Beim Bier gibt es aber Themen, bei denen der Wirt und das Ehepaar Siri nicht brauchen. Ganz klar ist, dass es nirgendwo in Europa so viele Brauereien gibt wie im Landkreis Forchheim. «Nirgendwo auf der Welt», korrigiert der Wirt. Naja, ist ja klar. Es gibt hier in der Nähe einen Ort mit weniger als 100 Einwohnern, aber mit zwei Brauereien. Und es gibt einen Bierweg. Der führt zu den vielen Felskellern, wo das Bier gelagert wurde. Diesen Weg könne man kaum zu Ende gehen. Man sei vorher besoffen. Und in der letzten Juli-Woche gibt es das Annafest: In all diesen Felskellern wird gewirtet, es spielt Musik und es wird getanzt. Dieses Jahr fällt es wegen Corona aus. Acht Schweizer, die fürs Annafest Zimmer gemietet haben, kommen aber dennoch nach Forchheim, sagt der Wirt.