Plötzlich heisst es «Servus»

Spur durch Deutschland, Reipertshofen – Altusried, 23. Juni 2020. Vom schweigsamsten Wirt, dem ich je begegnet bin, kann ich mich nicht verabschieden. Ein Bauer, der Thomas Müller ähnlich sieht, erklärt mir, warum die Milchbarone alle Wege haben teeren lassen und im Ochsen in Altusried redet man über den «Mohren» von Leutkirch.

Der Gasthof Mohren in Leutkirch hat ein Imageproblem

Im leeren Speisesaal des Landhotels Zerlaut liegt ein einsamer Teller auf einem einsamen Tisch. Dort setze ich mich hin und kaum sitze ich da, kommt der Wirt und sagt, ich könne auch im Garten essen. Das tue ich, und er bringt mir Käse und Yoghurt, Kaffee und was so zu einem Frühstück gehört. Dazu die Rechnung. Ich zahle. Einmal rufe ich in die einsame Stille, ob ich einen zweiten Kaffee bekommen könne. Ich erhalte ihn. Später hole ich den Rucksack im Zimmer, will mich verabschieden. Es ist niemand da. Es antwortet auch niemand auf mein Rufen. Die Türe zum Garten, wo ich vorher gesessen habe, ist geschlossen. Der Wirt ist verschwunden, spurlos. Und ausser ihm und mir scheint schon lange niemand mehr in diesem Landhotel gewesen zu sein.

Der Himmel ist wolkenlos, ein leichter Wind geht, es ist schön zum Wandern. Leider sind viele – zu viele – Wege geteert. Nur wenn mir die App einen Weg durch einen Wald weist, kann ich damit rechnen, auf einem ungeteerten Waldweg zu wandern. Nach Tautenhofen führt so einer, doch plötzlich versperrt ihn ein Seil. Ich drücke es nieder, steige drüber, dann noch eins. Ein Bauer hat mit den Seilen den Auslauf seiner Kühe auf die Weide markiert. Der Hof steht gleich hinter einem Baum und ich befürchte, dass ein Hund irgendwo hervorschiesst. Es bellt aber keiner, doch hinter einem monströsen Traktor steht der Bauer. Ich erschrecke, und er schaut verblüfft. Hier geht seit Jahrzehnten keiner durch, sagt er, doch seit Corona kommen die Leute in Scharen. Wie Karawanen ziehen sie vorbei. Wanderer, Radler. Die Leute wissen nicht mehr, was tun, und jetzt laufen sie durch die Wälder.

Schwäbische und bayrische Milchbarone brauchen Teerstrassen

Er sieht aus, wie Bayern-Stürmer Müller in etwa dreissig Jahren aussehen dürfte. Sehnig, mit einem breiten Mund, krausem Haar und einem Schalk im Blick. Ich sage, das sei der Weg von Basel nach München, er denkt nach und sagt, dann sei ich aber schon weit gegangen. Ich schimpfe über die Teerstrassen. Er denkt wieder nach und sagt, das sei wegen der Milchbarone so. Als sie das Milchgeschäft monopolisiert hatten, sind die Barone nach Brüssel betteln gegangen und danach hat man alle Zufahrtswege zu den Höfen mit EU-Geldern geteert. Jetzt können die grossen Milchtankwagen auf jeden Hof fahren. Auf Kieswegen hätten die Tanker «ka Schangs». Es gebe heutzutage allerdings viele Höfe, die nicht mehr landwirtschaftlich genutzt werden. Zu ihnen führen die Teerstrassen immer noch. Das gehöre heute dazu. Er sagt noch, ich solle unbedingt einen Umweg über Ottobeuren machen. Das sei sehenswert. Und ich möge den Weg bis zur Grenze geniessen. In Bayern sei es nicht mehr so schön.

Leutkirch ist die letzte grössere Ortschaft Baden-Württembergs auf meinem Weg nach München. An einer Bushaltestelle streiten ein Mann und der Busfahrer. Letzter lässt ersteren nicht rein, weil dieser keine Maske trägt und keine bei sich hat. Sie schimpfen rasch auf tiefem Niveau, dann schliesst der Fahrer die Tür, lässt den Mann stehen und fährt davon. Der Mann schimpft ziemlich heftig, ich höre ihn noch lange.

Das Café Venezia begnügt sich mit einem Meldezettel

Erstaunlich ist nicht nur, wie alle anstandslos die Masken tragen in den Bussen und in den Geschäften. Ich bin verblüfft, wie sich jeder Gasthof – und liege er noch so abgelegen in der Landschaft oder sei er noch so eine Knelle – von jedem Gast verlangt, dass er seinen Namen und die Zeit, die er im Lokal war, einträgt und auch seine Kontaktdaten angibt. Doch wie es die Wirte tun, ist unterschiedlich. Einige lassen ein A-4-Blatt ausfüllen. Das Eiscafé Venezia in Leutkirch begnügt sich mit einem schmalen Streifen Papier. Kurz vor Mittag sind erst wenige Tische besetzt. Von weitem sehe ich einen alten Mann herantappen, das Café fest im Blick. Er trägt Anzug mit Kravatte, hat schlohweisses Haar und eine Mappe umgehängt. Es ist klar, dass er ins Eiscafé will – so tatterig sein Gang, so zielstrebig die eingeschlagene Richtung.

Blick vom «Venezia» ins Zentrum von Leutkirch

Ein riesiges Hallo geht los, als er sich an einem Stuhl zu schaffen macht und sich setzen will. Die beiden Brüder, die das Café führen, Italiener, eilen auf ihn zu und begrüssen ihn herzlich. Sie reden auf ihn ein, fragen ihn aus, und der Herr Albert sagt, er hätte gern das Übliche, aber ausnahmsweise mit Sahne. Also: Zwei «Vaniglie»-Kugeln (zur Feier des Tages eben mit Sahne), dazu einen Kaffee und ein Glas Wasser. Und zum Dessert einen Espresso. Herr Albert, so erzählt mir der eine der Brüder, ist Stammgast hier, kommt zwei Mal in der Woche. Doch seit Februar war er nicht mehr da. 93 Jahre alt ist er. Er hat das Haus nicht mehr verlassen, die Tochter hat für ihn eingekauft. Doch nun wagt er sich wieder raus. Er hatte eine Besorgung zu erledigen in der Apotheke.

Nicht leicht zu finden – die Brücke über die Grenze zwischen Baden-Württemberg und dem Freistaat München

Ich verlasse dann Baden-Württemberg, querfeldein über Wiesen. Doch der direkte Weg erweist sich als schwierig, da die Grenze an diesem Ort, wo ich durchgehen will, offenbar vor Jahrzehnten oder -hunderten mit Entwässerungskanälen markiert wurde – so breit, dass ich nicht einfach drüberspringen kann. Doch ich finde eine Grenzbrücke und kann in den Freistaat Bayern einwandern. Und dann, in Hettisried, will ich einen Mann fragen, ob ich aus dem Wasserhahn vor seinem Haus ein bisschen Wasser abzapfen kann, und er begrüsst mich mit «Servus». Später nochmals, eine Frau: «Servus». Nicht mehr «Hallo» oder «GrüssGott» oder was auch immer, nein «Servus»! Zwei Zimmerleute rufen mir vom Dach herunter «Servus» zu.

In Altusried ist ein feines Zimmer mit Frühstück im Bären so billig, dass ich gar nicht an die Hängematte denke. Zu essen gibt’s zwar nicht, aber im Ochsen nebenan hat die Wirtin Roulade und Spätzle gekocht. Die Leute reden hier über Hornbach, der nichts wert ist, über die Raiffeisenkasse, die angeblich alle bescheisst, und dann erfahren ich, dass «Black Lives Matter» auch iun Altusried angekommen ist. Der Wirt vom Gasthof «Mohren», drüben im baden-württembergischen Leutkirch, hat Ärger wegen des Wirtshausschilds, wegen des Namens seiner Lokalität und überhaupt. Sie reden von Tradition, die doch auch was wert sei, aber ich habe noch Mühe mit dem bayrischen Dialekt und kann der Argumentation weder beim «Mohren» noch bei «Hornbach» folgen.

Ein Gedanke zu „Plötzlich heisst es «Servus»

  1. Ich bin einfach begeistert von deiner Berichterstattung. Und manchmal vergesse ich wo ich gerade sitze. Es ist dann so wie wenn ich mit wandern würde. Und manchmal lese ich meinem Liebsten vor. Dann wenn er am Steuer unseres Autos sitzt. Er findet es auch toll und lacht dann mit. Also schon ein zweiter von Fan. Grüsse dich aus dem Zug nach Rappi👋

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert