Auf welcher Seite?

Die Leisetreterei so mancher europäischer Politiker gegenüber dem Erdogan-Regime ist beschämend. Aber wir sind doch alle etwas vorsichtiger geworden.

16.8.8 auf welcher SeiteDer lange Arm von Erdogan (Tages-Anzeiger)

Damals in den Neunzigerjahren, als der Bürgerkrieg auf dem Balkan tobte, waren wir – auch hier in der Schweiz – zumindest am Rande von den Auswirkungen betroffen. Zum einen, weil Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien kamen. Und dann auch, weil schon viele Menschen aus dem Gebiet sich hier niedergelassen hatten, hier arbeiteten, hier wohnten. Wenn man zum Zahnarzt kroatischer Herkunft ging, mit aufgesperrtem Mund vor ihm sass und dieser an einer Zahnwurzel herumdokterte und seine politische Haltung rausdonnerte, über die Feinde loszog und zum Beispiel Journalisten beschimpfte, die sich zu wenig klar zur kroatischen Situation bekannten – ja, dann wusste man, woran man bei diesem Mann war und dass eine kritische oder nur schon eine beschwichtigende Äusserung unangebracht sei. Schliesslich hielt er einen Bohrer in der Hand und rumorte damit im Mund herum. Es war vieles unklar damals, aber immerhin wusste man, woran man bei einem Serben oder Kroaten oder Bosnier oder Kosovo-Albaner war.

Das ist jetzt, nach dem vereitelten Putsch gegen Erdogan, bei unserem Verhältnis mit Türken schon etwas anders. Nach den Berichten, wie Türken hierzulande eingeschüchtert werden. Nach den bekanntgewordenen Plänen von Erdogan, wie er mit Andersdenkenden Landsleuten im In- und Ausland umgehen will. Man weiss irgendwie nicht, auf welcher Seite die türkischstämmigen Leute stehen, mit denen wir es im Alltag so zu tun haben.

Vor zwei, drei Monaten redete man mit ihnen unbeschwert über die Türkei, über die politische Situation, über Erdogan. Allein schon wegen des Flüchtlingsabkommens. Da vernahm man dann beim Coiffeur, im Laden an der Ecke, im Fitnesscenter, vom türkischstämmigen Handwerker, der zur Heizungsrevision ins Haus gekommen war – da vernahm man dann manchmal so Sätze wie: «Furchtbar, dieser Typ, furchtbar.» Oder halt eben: «Ja, der Erdogan ist schon krass. Aber du musst auch sehen, was der für die Türkei alles getan hat. Wie er Wohlstand gebracht hat.»

Heute hat die Frage nach Erdogan ihre Unschuld verloren. Man will den Coiffeur, Ladenbesitzer, Fit-Club-Besucher, Heizungsmonteur nicht unbedingt in Bedrängnis bringen. Ihn nicht zu einer unbedachten Kritik am Despoten verlocken, denn man weiss ja nie, wer mithört, oder vom ihm gar erfahren, dass er einverstanden sei mit Erdogans Politik. Man stellt die Frage nicht mehr so unbekümmert und ist auch leiser geworden, obwohl man vielleicht schon gern wüsste, auf welcher Seite …

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