Die Frau mit der gelben Jacke, 20. Juli 2002

Ein unglückliches Paar streitet, der Mann hält mich für einen Landstreicher, und ich stelle eine blöde Frage. Schliesslich schickt mich die Wirtin nach Chur.

«Vergiss es», sagte der Mann. Es hörte sich an wie: «Verpiss dich.»
Ich lag noch immer am Ufer des Chapfensees, hatte den Rucksack gepackt, mich aber nochmals ans Ufer gelegt, war in einen leichten Schlummer gefallen, so leicht, dass ich glaubte, die Träume lenken zu können. Kleine Geräusche genügten, die Bilder jäh zu vertreiben, ein Insekt, ein knackender Ast. Nun das zischende «Vergiss es» einer Männerstimme. Es zerschnitt den Traum wie eine Klinge.
Eine Frau erwiderte. Ich verstand ihre Worte nicht. Der Mann sagte nochmals: «Vergiss es.» Und: «Ich bitte dich: Vergiss es.»
Sie werden, dachte ich, oben auf der Ruhebank sitzen. Zwischen ihnen und mir standen Büsche. Mein Hemd, für das Paar kaum sichtbar, hing noch in den Zweigen.
Ich horchte hin, lauschte und wollte erfahren, was es zu vergessen gebe. Es ging um Geld, um ein kleines Vermögen offenbar, und während ich zuhörte, kam mir auch in den Sinn, was in den Zeitungen zur Zeit zu lesen ist. Der anhaltende Börsenniedergang vernichtet den Leuten ihre kleinen und grösseren Vermögen. Auch dasjenige dieses Paares offenbar. Erspartes oder Vererbtes, eine beachtliche Summe, hörte ich. Die Frau trauerte ihr nach, und der Mann hatte es verspielt. «Verspielt», sagte sie. Und er sagte noch schärfer: «Vergiss es.»
Sie schwiegen, ich horchte hin. Dann schien mir, ich höre Schritte. Der Mann kam herunter zum Ufer, ich schloss die Augen.
Er musste mich entdeckt haben, wandte sich brüsk zurück zur Bank und sagte zur Frau: «Da unten liegt einer.» Sie fragte etwas und er: «Nein, er schläft. Sieht aus wie ein Landstreicher.» Dann brachen sie auf. Weit vorn an einer Wegbiegung sah ich sie gehen, die Frau trug eine gelbe Windjacke.
Vor mir, auf der Wasserfläche, schnellte ein Fisch in die Luft. Wahrscheinlich hatte er nach einer Mücke geschnappt. Ich sammelte die Brotkrümel auf meiner Hose, schnippte sie ins Wasser, doch sie lockten keinen einzigen Fisch an. Wahrscheinlich frassen sie lieber Mücken als Brot. Ich dachte über Landstreicher nach.
Später, an der Wegbiegung, hinter der ich die Frau in der gelben Jacke hatte verschwinden sehen, blickte ich nochmals auf den See zurück, in dem die Fische so gerne Mücken jagten, zog dann zügig los. Ich hatte ein Ziel. Wollte am Abend in Chur sein. Ich dachte über Landstreicher nach. In Vermol, einem kleinen Weiler, stand ein Wirtshaus.
Dort, unter Lindenbäumen, sass das Paar, das sein Vermögen an der Börse verloren hatte. Ich erkannte die Frau an der gelben Jacke. Sie hatte sie über die Stuhllehne gehängt. Die beiden sprachen nicht, und ich setzte mich an ihren Tisch, weil es der einzig freie war.
Die anderen Tische hatte eine Gruppe von zwölf oder mehr Leuten zusammengerückt. Frauen und Männer, ein Dackel und ein paar Kinder – eine Familienangelegenheit und da und dort versuchte immer jemand, ein Gespräch in Gang zu bringen. Hanspeter aber störte. Hanspeter war vielleicht zwanzig, geistig zurückgeblieben, und er wollte die Cola nicht trinken und auch nicht ruhig sitzen. Er brach manchmal in kreischendes Gelächter aus, schlug um sich oder schrie. Sein Vater besänftigte, irgend jemand setzte zu einer Anekdote an und dann legte Hanspeter gleich wieder los. Der Gesellschaft war es peinlich, die Leute schauten zu uns, zur Frau mit der gelben Jacke, zu ihrem Mann und zu mir.
Wir schwiegen und sassen vor leerem Tisch. Vielleicht hatte der Mann mich, den Landstreicher, erkannt. Er schaute zur Tür, die ins Restaurant führte, schaute hinüber auf die andere Talseite, war in meinem Alter, so gegen die fünfzig Jahre alt, und trommelte einen unerkennbaren Takt auf die Tischplatte.
Die Frau zupfte an ihrer Bluse. Sie hatte ihre Haare zurückgebunden, blonde Haare, einzelne grau, ihr Gesicht war gerötet, von der Diskussion mit ihrem Mann vielleicht. Von der Diskussion über das verlorene Vermögen. Ohnehin – dachte ich – würde sie es wohl vorziehen, über anderes zu sprechen. Über ganz banale und ordentliche Dinge. Über eine neue Geschirrspülmaschine, über Gartenmöbel, über erfreuliche Sachen und dass sie auch gerne lachen würde. Sie hatte feine Fältchen in den Augenwinkeln und eigentlich heitere Augen – nur jetzt gerade etwas leer, enttäuscht.
Sie schaute zu mir her, und ich blickte weg, blickte zur Tür des Restaurants, wo ich den Wirt oder die Wirtin erwartete. Der Mann schaute auch hin, dann auf die andere Talseite, zog die Brust hoch und trommelte. Man spürte seinen Zorn. Dann schaute er zu mir hin, ich zur Tür des Restaurants und Hanspeter schrie.
Ich dachte an Landstreicher, an die Kapriolen der Börse, versuchte mir vorzustellen, wie diese ordentliche Mann vor vielen Jahren erstmals seiner Frau begegnet war – an einem Firmenfest vielleicht, sich in sie verliebt und um Worte gerungen hat, es ihr zu zeigen. Hanspeter zerrte am Ohr des Dackels, der Hund bellte, ich grinste und der Mann warf mir einen Blick zu, als ob ich Hanspeter sei.
Die Frau streichelte besänftigend seine Hand, ihre Jacke rutschte von der Lehne zu Boden, ich wagte nicht, sie aufzuheben. Ich fragte: «Haben Sie schon bestellen können?»
«Ja», sagte der Mann, «vor einer Ewigkeit.» Der Mann trommelte wieder und die Frau riet mir, mich etwas zu gedulden, fragte mich, ob ich von weither komme, und ich sagte: «Ja, von Durness.»
Das kenne sie nicht, sagte die Frau, und ich erklärte, es liege in Schottland, ganz oben im Norden. Der Mann hielt inne und schaute mich verächtlich an. Also doch ein Landstreicher. Und die Frau fragte: «In Schottland?» Ich sagte ja.
«Dann sind Sie aber schon lange unterwegs?»
«Seit fast drei Monaten.»
Der Mann wies auf einen Gleitsegler, der über uns hinweg ins Tal glitt, und sagte zu seiner Frau, so was würde ihn auch reizen, wenn er noch jünger wäre.
Aus dem Restaurant hörten wir Gläser klirren. Die Frau fragte, wohin ich denn nun weiterziehe und ich sagte, nach Sizilien. Sie fragte warum und ich sagte, weil es mich schon als Knabe immer wunder genommen habe, wie gross Europa eigentlich sei. «So ein Quatsch», sagte der Mann.
Das klatschte wie eine Ohrfeige. Die Frau lachte, als wäre das nur eben ein Witz gewesen, den nicht jeder auf Anhieb versteht. Sie sagte: «Da haben Sie gewiss viel zu erzählen.» Nun, dachte ich, wäre die Reihe wohl an mir, aber es war wieder der Mann: «So ein Quatsch, Riesen-Quatsch.»
Das klang zweifelsohne nicht nach Witz. Am Nebentisch schlug Hanspeter um sich und ich fragte den Mann: «Haben Sie viel Geld verloren?»
«Das reicht!» donnerte der Mann. Er stand auf, riss die Frau vom Stuhl hoch und zerrte sie weg – hinunter auf die Strasse. Hanspeter hatte sich wieder beruhigt und niemand sprach.
Irgendwann kam die Wirtin, ein Mineralwasser und einen Kaffee auf dem Servierbrett, suchte nach den Gästen, und ich bat sie, die Getränke mir hinzustellen. Die Gäste am Nebentisch bezahlten, brachen auf, und da huschte die blonde Frau nochmals heran, bückte sich nach ihrer Jacke und verschwand.
Ich trank den Kaffee und bereute, dem Mann diese indiskrete Frage gestellt zu haben. Aber er hatte mich grausam genervt mit seiner selbstgerechten Art. Etwas später rief mich die Wirtin, eine siebzigjährige, hagere Frau, etwas mürrisch, die Haare streng zu einem Knoten gebunden. «Kommen Sie.» Ich folgte ihr in die Gaststube, sie zeigte zum Fenster hinaus und da sah ich die beiden wieder, die Frau in gelber Jacke und den Mann, der ein Vermögen verspielte hatte. Weit unten, kleine Figuren nur noch. Sie gestikulierte, sie stritten, blieben stehen, gingen ein paar Schritte weiter, die Frau machte abwehrende Gesten, wich vor ihm zurück. Er stiess sie ans Strassenbord, sie verlor das Gleichgewicht, fiel hin, rappelte sich auf, liess die Jacke liegen und eilte in den Wald hinein. Der Mann setzte sich hin – dort, wo die Frau gefallen war.
«Haben Sie», fragte die Wirtin, «etwas damit zu tun?»
Ich zuckte die Schultern und suchte meinen Platz auf. Wahrscheinlich haben die Vögel gezwitschert, hat der Wind mit dem Laub der Bäume gespielt, sind weitere Gleitsegler über mich hinweg zu Tal geglitten. Ich weiss es nicht mehr. Die Wirtin brachte ungebeten einen zweiten Kaffee und sagte: «Heute habe ich nur verquere Gäste.»
Ich grinste sie an und hoffte, sie würde sich davonmachen. Aber sie blieb stehen. Blieb einfach stehen. «Kennen Sie dieses Paar?» «Nein.» Vielleicht haben die Vögel weiter gezwitschert, hat der Wind mit dem Laub gespielt und sind Gleitsegler zu Tal geflogen. «Aber Sie haben doch etwas mit diesem Streit zu tun?» Ich erzählte, was ich wusste.
«Und Sie?» fragte sie dann, «Sie sind mir kein gewöhnlicher Wanderer?» Sie blieb am Tisch stehen, die leere Kaffeetasse in der Hand, und ich erzählte. Hätte gerne eine Zigarette angezündet, aber es war kein Aschenbecher auf dem Tisch und sie stand so regungslos streng und aufmerksam, dass ich nicht danach zu fragen wagte.
Schliesslich fragte sie, ob ich ein Buch darüber schreibe. Ich schüttelte den Kopf. «Schreiben Sie nichts auf?» «Doch, doch, jeden Tag.»
«Machen Sie ein Buch aus Ihrer Reise», sagte sie. «Vielleicht bekommt es die Frau mit der gelben Jacke in die Hand, sie wird es lesen und sich an den Landstreicher erinnern, der sich hier in Vermol so hämisch und hinterrücks nach dem verschwundenen Vermögen ihres Mannes erkundigt hatte.»
«Und das wird sie glücklich machen?»
«Das weiss ich nicht. Aber sie wird lesen, wie es einem Mann so geht, dem die Frau davonläuft, der die Arbeit aufgibt, die Wohnung, die Familie und sich einfach davon macht, um quer durch die Länder zu streichen.»
«Woher wissen Sie das?» fragte ich.
«Sie haben es erzählt.»
Einen Moment lang schien mir, ein Lächeln husche über ihr Gesicht, aber eigentlich schaute sie mürrisch und misstrauisch wie die ganze Zeit. Sie sagte, ich müsse nun aufbrechen, wenn ich Chur noch erreichen wolle.
Hochzeitsgesellschaft
Ich bin dann nach Mels hinuntergestiegen, auf dem gleichen Weg, den die Frau und der Mann auch gegangen sind. Ich habe sie nicht mehr angetroffen. In Mels geriet ich in eine Hochzeitsgesellschaft und wunderte mich, was für ein hübsches Dörfchen sie sich zum Heiraten ausgesucht hat. Wie oft bin ich hier schon vorbeigefahren und habe eigentlich ausser dem Wegweiser nach Mels vom Ort nichts zur Kenntnis genommen.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, durch die Bündner Herrschaft zu wandern, doch irgendwie beschäftigte mich das Erlebnis am Vormittag so, dass ich auf dem linken Rheinufer blieb, stracks voranwanderte, nicht einmal in Mastrils, wo ich zwei Jahre lang Lehrer war, Halt machte. Ich machte lediglich ein Foto vom Restaurant Tardisbrücke und fragte mich den Rest des Weges, warum um Himmels Willen ich auf die Idee gekommen bin, diesen nicht gerade hübschen Ort zu fotografieren. Am Abend traf ich in Chur ein.
Auch hier habe ich ein paar Jahre gelebt, gewohnt, Leute gekannt. Und jetzt ist es fremd – und vertraut zugleich. Dieses wirklich lebendige Städtchen mit dem Hochhaus-Ring unten in der Rheinebene, dieses Städtchen, das platzt vor Schmuck und Reichtum, der aus den so verschiedenartigen, hundertfünfzig Bündner Tälern hier zusammenfliesst. Sprachen, Kulturen, Kunstwerke. Es gefällt mir hier, immer und immer wieder.
(Chur 20. Juli)
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Karte

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Quelle

Bildlegende

Eintritt ins Bündnerland – hier, neben dem Restaurant Tardisbrücke in Mastrils, war einmal ein Zoll.

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