Abstecher ins Ferienidyll, 19. Juli 2002

Eine Wirtin bildet sich im Lokalgeschehen weiter, dreht Butterbällchen, und am Chapfensee plaudert ein Fischer drauflos.

Die Wirtin im Hotel Gemsli war rührend. Las in der Zeitung als ich herunterkam, im Sarganserländer. Was ja eigentlich nichts Besonderes ist. Aber sie las so offensichtlich beflissen und lernbegierig, dass das Zuschauen, wie sie las, schon fast anstrengend wurde. Sie war so konzentriert, dass sie mich nicht hereinkommen hörte und sie erschrak ziemlich, als sie mich dasitzen sah. Sie entschuldigte sich und erzählte, dass sie erst seit drei Monaten dieses Hotel führe. Sie müsse nun halt jeden Morgen die Zeitung studieren, um sich ins lokale Geschehen einzulesen. Immerhin ist sie aus Zug hierher gezügelt.
Sie braute mir einen dünnen Kaffee, stellte Brot und mit den Fingern rundlich gerollte Butterkügelchen hin. Ich vermute, dass sie nie das grosse Hotel führen würde hier oben in Oberterzen. Es könnte Gäste geben, die Fingerabdrücke auf der Butter unappetitlich finden.
Ein Umweg
Eine Gondelbahn führt hoch in die Flumserberge. Ich wär – meiner Route zuliebe – zwar besser auf dem Walsa-Weg geblieben, denn es sollte mir herzlich wenig nützen, auf zwölfhundert Meter hinaufzufahren. Musste alles wieder hinuntersteigen – ein grosser Umweg eigentlich. Aber die Flumserberge und die Tannenbodenalp wollte ich doch mal sehen. Es gibt dort oben ein Hotel, das «Baselbieter Haus» heisst. Flumserberge und Tannenbodenalp und eben dieses Hotel waren für viele meiner Bekannten in der Jugend ein Ferienziel, ein Wintersportziel. Sie haben immer von dieser Tannenbodenalp erzählt und nun, da sie so nah war, wollte ich sie mal anschauen. Und die Flumserberge hat Maite Nadig geadelt – nicht nur wegen ihrer Goldmedaillen an den Olympischen Spielen, sondern auch wegen ihrer unbekümmerten Sprüche. «Wie war der Schnee?» fragte ein Reporter die Siegerin damals. «Weiss», sagte sie und diese Antwort ist mir auch fast fünfundzwanzig Jahre später hängen geblieben. Und wenn ich den Gesprächen unter Einheimischen da oben zuhörte, schien mir, dass die alle so knorrig-direkt miteinander umgingen.
Flumserberge und Tannenbodenalp – so viel habe ich von dieser Gegend gehört und nun erstmals gesehen. Ein Konzentrat schweizerischer Biederkeit. Einfallslose Hotelkästen, Appartementhäuser, Lädelchen, und vor allem: ein Hang übersät mit charakterlosen Ferienhäuschen, die meisten verschlossen, mit sogenannt kalten Betten, die nur wenige Tage im Jahr belegt sind. Nur vor wenigen dieser Häuschen sah ich Bewohner, die meisten in kurzen Hosen. Alle Häuschen mit ordentlich gepflegten Gärten. Büsche und Sträucher akkurat zurückgeschnitten. Meine Stimmung begann sich zu trüben – Sonne hin oder her.
Lektüre in Campingsitzen
Zwischendurch Bauern am Heuen, manchmal ein Bauernhaus, das sich irgendwelche Städter unter den Nagel gerissen haben. Sie tranken an diesem sommerlichen Morgen Kaffee auf Campingsitzen mitten in der Wiese und lasen Bücher.
Talabwärts heiterte sich mein Gemüt auf. Eine wunderbare, abwechslungsreiche Landschaft tat sich auf. Ich durchstieg den Hang nicht auf dem vorgegebenen Weg, suchte immer wieder neue Pfade, fand stille Weiler, weite Wiesen, wilde Wälder. Und den Chapfensee. Ein kleiner Stausee, bevölkert mit Einheimischen, die hier badeten, fischten, spazierten, sich Geschichten erzählten. Von den Pilzen, die man hier finde, Körbe voller Eierschwämme, unendlich viele Steinpilze – doch man betont, dass man nicht hamstere, sondern nur wenig nehme. Soviel eben, wie man grade verwerten könne.
Oder Fische. Nur zwei, drei aufs Mal – die anderen werfe man zurück in den See.
Das Blut einer Zwanzigjährigen
Ein besonders redseliger Fischer erzählte mir von seinem Herzinfarkt. Im letzten Herbst traf es ihn. Mit dreiundachtzig Jahren. Und zwar, weil er zuwenig Blut hatte. Man steckte ihm im Walenstadter Spital eine Infusion, gab ihm Blut einer Zwanzigjährigen und – oh, das Leben ist zurückgekommen.
Er mag erzählen und erzählen: Neunzehnhundertzweiunddreissig hat er dem reichen Zindel in Maienfeld sechs Rebhühner bringen müssen. Zindel kam mit einem Vierspänner vom Heuen zurück. Muss das ein vermögender Mann sein, hat er damals gedacht als Vierzehnjähriger. Jetzt sind die Zindel pleite. Die Welt ist gerecht am Chapfensee.
Ich beschloss, im Schlafsack am Ufer zu übernachten.
(Chapfensee, 19. Juli 2002)
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Quelle

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Bildlegende

Chapfensee.

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