Der Cumbria Way führt in die britischen Berge, zum höchstgelegenen Hotel Grossbritanniens, einer Jugendherberge. Der Wind weht heftig, verschluckt jedes Wort, und in Keswick arbeitet ein Kellner, der der in Pontresina im Militär gewesen sein will.
Kein Mensch im Skiddaw Youth Hostel – aber die Türe ist offen.
Fünf Stunden, nachdem wir in Whelpo aufgebrochen sind, ohne schweres Gepäck, das unsere Wirtsleute nach Keswick bringen würden, dem High Pike entgegen, ständig bergan, an verlassenen Graphit-Minen vorbei, in immer stürmischerem Wind, und weiter bergan – fünf Stunden also nachdem wir aufgebrochen sind, taucht nach einer Wegbiegung weit vorn ein Haus auf. Klobig liegt es in der öden Gegend. Berggegend würde man sagen, wenn man nicht wüsste, dass wir nur fünfhundert Meter über Meer sind: das Skiddaw Youth Hostel.
Es war ein angenehmer Start gewesen, denn es war ein Start ohne die schweren Rucksäcke. Es traf zu, was uns die vier Londoner Wanderer gestern im Pub vom Bridge End erzählt hatten: Die Gastgeber in der B&B-Unterkunft in Whelpo erkundigten sich nach unserem Ziel des heutigen Tages und sicherten uns zu, dass wir die Rucksäcke stehen lassen könnten mit der Gewissheit, dass sie am Abend vor unserer nächsten Unterkunft stehen würden. Das Problem nur: Wir wussten gar nicht so genau, wo sich diese befinden würde und so musste ich zum ersten Mal seit dem Start in Durness planen. Die Wirtsleute gaben uns eine Adresse einer B&B-Unterkunft in Keswick an. Wer das Gepäck transportieren würde, wussten die Wirtleute auch nicht, aber sie versicherten, dass alles klappen werde.
Hinter uns das offene Meer
Und so zogen wir los, mit einem kleinen Proviantsack am Rücken, kahlen Bergen entgegen, kein Baum, keine Hütte, kein Tier, nur vertrocknetes Gras vom letzten Jahr, dürr und bräunlich, das junge noch nicht am Keimen und gar nicht denkbar, dass irgendein Lebewesen und sei es nur ein Halm, in dieser unwirtlich windigen Gegend je ans Keimen dächte. Manchmal blickten wir zurück über die Hügel von Caldbeck ins offene Meer. Und dann, fünf Stunden nach dem Start das Skiddaw Hostel, wo sich seltsamerweise das Gras bereits in schwachem Grün zeigte. Zweistöckig ins Niemandsland der Cumbrischen Berge gesetzt, wo sich zwar ein schütterer Baumbestand hinter dem Hostel erhebt, sonst aber kaum ein Strauch wächst. Zweistöckig und grau verputzt, sehr lang und eher drohend als wirtlich in der Gegend trohnend.
Kein Mensch im Skiddaw Hostel, kein Laut, keine Zeichen. Aber eine Tür offen in dieser Einöde. Eine Tür offen nach fünf Stunden Sturm und Wetter und Regen – Wind vor allem, der die Kapuze hat hochziehen lassen bald nach dem Abmarsch und sie schützend über die Ohren hat spannen, jedes Wort zur Unverständlichkeit hat verkommen lassen, fünf Stunden lang. Ausser den gemütlichen Momenten in der Holzhütte bei Great Lingy Hill, wo wir kurz eintraten, einen Tee tranken und Biskuits assen, darüber sprachen, wie hier ein Krimi oder eine Schauergeschichte den Anfang nehmen könnte. Wir haben uns ins Gästebuch eingetragen, die Schauergeschichte weitergesponnen, dann die die Kapuze wieder hochgezogen und sind schweigend durch die Cumbria-Einöde gewandert.
Das höchstgelegene Hotel
Bis eben zur offenen Türe im Skiddaw Hostel. Kein Mensch. Aber ein Gaskocher, Kaffeepulver und weiche Sessel. Wir haben gerufen, aber niemand antwortete. Wir setzten Wasser auf, warfen Pulver in Tassen und tranken einen Kaffee. Und Moni nahm ein Papier zur Hand, das auf dem Tisch lag, auf dem geschrieben stand, dass wir uns zur Zeit im höchstgelegenen Hotel Grossbritanniens befinden. Kein Personal und keine Gäste. Nur wir – und im Obergeschoss Pritschen.
Wir genossen den Moment, einen ausgedehnten Moment lang, stülpten die Kapuzen wieder über, legten einen Obolus in die Kasse und wanderten weiter, ein Tal hinab, einem ewig langen Hang entlang und dann – unter plötzlich einfallender Sonne – durch Kesswick.
Der Wind hat unsere Gesichter gerötet, uns auch ein bisschen taub gemacht. Wir fanden unser Gepäck in einem B&B, zogen uns saubere Kleider an, suchten jenes vornehm wirkende Pub auf, wo sich die Einheimischen mit Bedacht die Pints hinter die Kehle schütteten, Handys auseinandernahmen, über den alltäglichen Unsinn quatschten und an manchen Tischen auch was assen. So taten auch wir. Wir wählten ein Menu ohne eine dieser Saucen, die alles gleich schmecken lassen. Salm für Moni, Chicken für mir – und es schmeckte ganz fein. Ein Deckenbalken mit Jahrzahl 1590 hing quer durch den Raum – und da sagte mir Moni, vom Wind gerötet und ermattet, dass dies nach vier gemeinsamen Jahren unsere Abschiedsreise sei. Sofern ich meine ewige Unverbindlichkeit nicht fahren lasse und mich nicht endlich als fähig erweise, verbindlicher zu werden. Eine Beziehungsdiskussion bahnte sich an, der Kellner muss es erraten haben. «Was ist denn los?» fragt er.
Gebirgskurs in Pontresina
Die rötlichen Koteletten tief unter die Backenknochen gezogen, den Blick auf wild getrimmt, die Aussprache nicht so, als ob sie während vieler Schuljahre geschliffen worden wäre: «Wo kommt ihr her?» Und dann: «Ja, ich kenne die Schweiz. Ich war lange in Pontresina.»
«Als Kellner?» fragt Moni. «Wie hier in Keswick?»
«Nein, ich war viel im Militär.» Er war als Soldat in Pontresina, als Zivilist getarnt, hat dort Skifahren gelernt, Gebirgskurse, Training für Auslandeinsätze. Wir glauben ihm nicht, und er merkt es. Er erzählt, wie sie als Touristen getarnt in den Schweizer Bergen geübt hätten. «Ich habe viel Scheiss gebaut als Jugendlicher und hatte dann die Wahl: Entweder Gefängnis oder Militär. Ich wählte das Militär. War sicher der interessantere Weg.»
Dann hatte er einen Motorradunfall. Aus mit Armee. «Sonst wäre ich jetzt in Afghanistan. Wahrscheinlich. Sehr wahrscheinlich.»
Und jetzt – im Pub halt.
(Keswick, 14. Mai 2002)