Im Nebel und Regen erkennt mich ein fremder Mann und verschwindet spurlos. Ein Taxi, das keines ist, fährt mich zurück.
Nebel über dem Derwent Water und Regen obendrein.
Es werde aufhellen, sagte unser Bed&Breakfast-Gastwirt, servierte Spiegelei mit Schinken, aber sonst war er nicht gesprächig. Seine Frau haben wir nicht gesehen, nur er hantierte in Küche und Esszimmer. Er war frisch rasiert, trug gebügeltes Hemd. Vielleicht war er einmal Boxer und hatte deshalb die Nase so zugerichtet bekommen. Er wirkte nicht wie ein leidenschaftlicher B&B-Gastgeber. Er bessere sich mit diesem B&B die Rente auf, sagte er. So wie es viele hier tun in diesem Ferien-Keswick. Jedes zweite Haus ist ein Guest-House, alle üppig verkitscht, Kissen auf Korbstühlen, wo sicher nie jemand sitzen wird, Stofftierchen, Spannteppiche, kleine Prospekte überall und abends die Räume im Erdgeschoss beleuchtet.
Die Gäste sind meist Rentner, Leute über fünfzig jedenfalls. Sie schlendern durch die Gassen, schauen in die Schaufenster, Antiquitäten, Möbel, Wanderartikel, Sweeties. Einige treffen wir im Bleistift-Museum (Pencil-Museum) – hier war einmal das Zentrum des regionalen Graphit-Abbaus. Die stillgelegten Minen mit ihren zerfallenden grauen Ruinen und den Halden von ausgeworfenem Gestein zeugen davon. Ein Heimatmuseum: So hat man Graphit abgebaut, der Besucher duckt sich durch Minen-Gänge, so hat man das Gestein gemahlen, so zu Pencils, zu Bleistiften verarbeitet, im Kriegsfall die Karten vom Feindesland so in die Bleistifte versteckt – in Schaukästen liegen sie zum Betrachten bereit, die Bleistifte mit Hohlräumen für Karten aus dem gegnerischen Gebiet.
Andere Rentner haben sich den Regenschutz übergezogen, wandern rund um den See, das Derwent Water, auch auf einige Hügel hinauf, sie grüssen alle freundlich, freuen sich auf den Tee nachher und vielleicht auch auf einen Whisky. Der See im Nebel, voller Kreise, die ihm die Regentropfen aufsetzen, Enten tauchen, auf einer Weide blökt ein Schaf, als ob ein kleines Kind schriee. Ein Idyll.
Der Regen tropft fort. Moni mag heute nicht mitkommen, will Keswick geniessen, sich ausruhen. Ferien seien zum Ausruhen da, nicht zum Kilometerfressen. Wir machen ab, dass ich am Abend irgend eine Möglichkeit finde, wieder zurück nach Keswick zu kommen.
Der Weg nach Stonetwaithe ist voller Pfützen, voll von fliessendem Wasser, die Steine glitschig, das Moos schwillt an vom Nass und an den jungen Blättern der Bäume tropft das Wasser ergeben ab. Die Elfen wollen nicht tanzen, die Kobolde und Gnomen geduckt unter Steinen im Trockenen.
«You are the Swiss»
Ein Mann mit tiefgezogener Kapuze hat seinen Rucksack auf eine Bank gestellt. «Hello», sagt er – und dann: «You are the Swiss.» Ich erschrecke, habe ihn noch nie gesehen. Ich sei doch der, der einen langen Marsch südwärts mache. Ich sei in Lockerbie gewesen. Ich sei vor zwei, drei Tagen im Gasthaus in Caldbeck gesessen zusammen mit einer schwarzhaarigen Frau. Es wird etwas ungemütlich. Ringsum Nebel, überall tropft es vom Himmel. Der Mann grinst mich an. Ich stottere, frage, warum er das wisse … Und er fährt fort: ich sei damals, als ich mit der schwarzhaarigen Frau im Gasthaus von Caldbeck gegessen habe, von einem Farmer abgeholt worden. Der Nebel schleicht hinter Felsen hervor, und der Mann lacht. Sein Rucksack fällt von der Bank, ich will ihn aufheben. Ach lass nur, sagt er.
Dann erzählt er mir, dass wir uns vor Lockerbie getroffen hätten. Ich erinnere mich an zwei Männer, die Vögel beobachtet haben. Bussarde. Dass ich mit ihnen gesprochen habe. Ja, er sei einer von ihnen gewesen, sagt er. Und dann wünschte er mir eine gute Reise. Ich nickte und ging weiter. Dann hielt ich inne. Damals – fuhr es mir durch den Kopf – als ich diesen Fremden in Lockerbie angeblich getroffen haben soll, konnte ich noch gar nicht wissen, dass ich später in Caldbeck in einem Restaurant sitzen würde. Wieso weiss er auch davon? Ich ging zurück und wollte ihn fragen, wieso er das von Caldbeck und dem Farmer, der uns abgeholt hatte, wisse. Aber ich fand ihn nicht mehr. Er war irgendwo im Nebel verschwunden.
Kaminfeuer-Idylle
Unerträglich schöne Melancholie in diesem Regen, unerträglich schöne, niedrige Häuser auch, die meisten bereit, in der kommenden Saison all die Touristen aufzunehmen, die hierherkommen werden. Ein unscheinbares Tea-Room plötzlich – bietet herrliche Kuchen an und weiter, weiter im Regen, feucht die Haut, nass vom Nebel und von Regen. Ein Inn in Sonetwaith, ein Cidre, das Kaminfeuer brennt, fast unerträglich, diese Idylle.
Und ich weiss, dass ich nun in ein Tal hinein steigen muss, drei Stunden ohne Haus. Warum? Warum nicht umkehren – diese verklärte Welt auf mich wirken lassen. Warum über diesen Campingplatz, auf dem der Boden trieft, wo ein paar Berggänger im Sumpf liegen, traurig in die Nebelschwaden blicken, Tee und Whisky trinken und auf anderes Wetter warten.
Ich eile über die weite Wiese, verpasse den Weg, suche ihn auf glitschigen Steinen, über Schluchten, in denen das Wasser tost. Warum nicht einfach umkehren? Ist das ein Weg nach Sizilien? Die Wege sind Bäche, die Wiesen Sumpf.
Ein letzter Zweifel unterhalb des Aufstiegs, am Anfang des Pfads, der sich in den Nebel hinaufwindet. Zwei Herren kommen entgegen und versichern, dass der Weg gut zu finden sei. Ich steige hoch, so schnell, wie es geht, plötzlich ohne Sicht. Taste mich vor und achte ängstlich darauf, nie das aus den Augen zu verlieren, was ein Weg sein könnte. Ein Schaf unvermittelt auf dem Pfad. Es weicht nicht wie sonst alle anderen. Muss es umgehen und den Weg wieder suchen. Male mir alle möglichen Geschichten aus, aber ich weiss, dass ich irgendwann abends wieder unten sein werde.
Genug von englischen Bergen, sage ich mir, morgen soll es wieder stracks südwärts gehen. Ich sehe unten einen Fluss fliessen, eile ihm entgegen, folge ihm bis zu Old Dungeon. In der Hiker-Bar sitzen junge Männer. Sie haben Zäune gebaut, Dächer geflickt, Mauern ausgebessert. Sie trinken ihr Pint, drehen Zigaretten, reden. Freundlich, ohne allzu viel fucking. Ich frage sie, wie man nach Keswick komme. Du kommst doch von dort, sagt einer. Ja, aber ich will dorthin zurück.
Das sei schwierig, sagen sie. Es gebe nur eine Möglichkeit: Taxi. Aber das sei teuer, zwanzig Pfund mindestens – willst du das.
Ja, sage ich. Sie fordern mich auf, ein Bier zu bestellen. Sie würden mir ein Taxi besorgen. Dann reden wir übers Dächerflicken, Zäunebauen, Mauernausbessern. Wir fachsimpeln über Pfetten und Sparren. Dass Pfetten und Sparren in den Alpen dicker sein müssen als hier, weil sie im Winter einen Meter Schnee zu tragen haben.
«Lucky Man»
Einer haut mir auf die Schultern, dreht seine Zigarette fertig, klebt sie zu und sagt: «You are a lucky man.» Ich frage warum, und er sagt, schau, das Taxi ist da.
Eine junge Frau steht unter der Tür, die Taxifahrerin. Ihr Auto ist zwar kein Taxi, sondern ein gewöhnlicher Ford. Sie fährt mich eine Stunde lang zurück nach Keswick, an den Bergen vorbei, die ich durchwandert habe, durch idyllische Strassen zwischen dicht bemoosten Steinmauern hindurch, sagt in einer engen Biegung: Oh, that’s a short curve. Ich sage, dass dies bei uns «scharfe Kurve» heisse. Sie lacht und sagt: «Manchmal sagen wir auch so.»
(Keswick, 15. Mai 2002)