Alles noch sehr verworren, 27.4.2002

Endlich! Durness. Ich bin hier – was hab ich seit Jahren geschwatzt davon. Jetzt also soll die Reise nach Sizilien beginnen.

Haus in Durness
Eine traumhaft schöne Bucht, ein Friedhof, ein einsames Haus: Durness.

Doch der Reihe nach: Mit dem Mietwagen, einem Ford, habe ich den Flughafen von Glasgow gestern Abend verlassen, wusste nicht so recht, in welche Richtung. Dieses verdammte Linksfahren! Dem Gespür nach steuerte ich durch Glasgow Richtung Edinburgh. Sonne, Regen, ein steter, regelmässiger Wechsel. Irgendwann links, Ziel Stirling, aber zu früh abgebogen. Eine aufregende Fahrt durch hüglige Landschaften, die Strassen löchrig, uneben, schmal. Die Wiesen noch winterbraun, die Osterglocken leuchten und der Ginster auch.

Die Vegetation ist noch nicht so weit wie daheim, doch seltsamerweise leuchtet der Raps auch schon gelb. Regenstösse, dann wieder schräge Sonne, lässt Flüsse und Lochs schillern, im Hintergrund etwas Schnee auf den Bergen – und da soll ich durchwandern? Was hat mich je auf eine solche Idee gebracht! Nach Perth am Loch Rannoch, an PitLochry vorbei, durchs Tal des Glen, über den Drumochter-Pass und kurz vor Aviemore eine Bed&Breakfast-Tafel in Kingussie.

Eine behäbige Schottin empfängt mich, zeigt mir ein Zimmer, bringt etwas Kleines zum Essen aufs Zimmer: Salami, Schinken und Emmentaler-Käse. Dazu ein Glas Rotwein und die überschwängliche Botschaft, dass die Herrin des Hauses Schweizerin sei. Morgen werde sie mit mir Schwyzerdütsch reden, sie selbst verstehe es auch ein bisschen. Nur reden könne sie es nicht. Und Ende Februar sei sie in der Schweiz gewesen, habe vorher im Elsass übernachtet.

Dieser seltsame Wortfall

Wenn ich nur diese Schotten – oder halt Schottinnen – besser verstehen würde. Dieser seltsame Wortfall!
Wollte eine Mail schreiben. Doch mein Account funktioniert nicht. Ob ich das noch hinkriege? Alles etwas trübe Aussichten!

Und dann dieser herzliche Empfang der Schwyzerdütsch sprechenden Gastgeberin heute morgen. Sie hat ein üppiges Frühstück aufgetischt. Sie sprach Luzerner Dütsch und fragte, ob ich Alphorn blasen könne. Sie redete und redete und gab mir Tipps, die Schweizer Wirtin der Cottages in Crubenbeg, was gälischen Ursprungs sei und soviel heisse, wie sanft abfallender Berg. Ihre Tipps lauteten so: Durness sei langweilig. Ich möge doch lieber die Whisky-Tour in den Central Highlands of Scotland machen, oder irgendwo bei Fort Williams rumwandern. Im übrigen werde es übers Wochenende nochmals kalt.

Aber mein Ziel war Durness. Fuhr los, nach Inverness, wo ich den Ford zurückgeben wollte. Darum die scheue Frage im Tourist Office, ob es eine öffentliche Verbindung nach Durness gebe. Die Dame im Office war sehr nett – wollte keine klare Antwort herausrücken, verschwand kurz, um sich mit dem Chef zu besprechen. Dieser, rapportierte sie mir, teile ihre Meinung: Mit Zug und Bus komme man nicht nach Durness. Man müsse sich von Schülertaxi zu Schülertaxi hangeln, von Ortschaft zu Ortschaft. Einigermassen ordentlich werde die Reise erst ab 6. Mai möglich sein – aber auch dann würde sie anderthalb Tage dauern. Jetzt mehrere. Na gut, ich konnte das nicht so recht glauben, es war mir aber ganz willkommen: Noch ein bisschen Auto fahren, mich erst an dieses Unterwegssein gewöhnen, mit Auto und B&B. Zelt und Abenteuer noch etwas im Rucksack lassen.

Auch im Bahnhof wussten sie nichts von Verbindungen nach Durness und schickten mich ins Tourist Center, wo ich doch eben schon war. So trank ich in einem Tearoom einen Tee, schlenderte durch die gepflasterten Strassen. Samstag, die Leute kauften in den mittlerweile auf der ganzen Welt sich gleichenden Einkaufszentren ein, Zentren mit schäbigen Kinderkarussells vor dem Eingang, für fünfzig Pennies drehen sie sich. Ein bisschen Lokalkolorit hat es auch. Berockte Dudelsack-Schotten spielen ihre Weisen. So merkt man, dass hier Schottland ist. In Basel Pfeiffer und Tambouren, in Bern Alphörner und in Inverness Dudelsäcke.

Auch diese überall gleichen Tankstellen. Ein bisschen unterscheiden sich die Reklamen von denen anderer Länder, aber das Angebot ist das gleiche: Mars, Coca-Cola, Chips. Rivella gibt es nicht, eine halbe Flasche habe ich noch im Rucksack. Und andere Menschen. Hier bedienen nicht Jugoslawen, Türken oder Elsässer an den Tankstellen – es sind die Mädchen aus dem schottischen Hinterland, die sich von Tankstelle zu Tankstelle an die Städte heranpirschen. Einheimische. Immer sehr freundlich, langsam beginne ich den Dialekt zu verstehen.

Die Fahrt nach Dingwall etwas verworren. Verpasse Abzweigungen. Dann aber zügig durch eine freundliche Frühlingslandschaft nach Bonair Bridge – später durchs traumhaft schöne, wenn auch noch recht winterliche Tal des Loch Shin. Sonne, Regen, Schnee manchmal, im Hintergrund verschneite Berge, an einsamen Häusern vorbei, wo Förster und «solcherlei seltsame Leute» wohnen sollen, wie mir ein Mann erklärt. Enge Strasse mit häufigen Passing Places, in denen man ausweicht, wenn ganz selten ein Auto entgegenkommt. Hinauf nach Kinlochbervie, wo sie riesige Mengen von Fisch auf Lastwagen verladen werden, Schafe belagern die Strasse und plötzlich ist da Durness.

Ich bin gerührt. Da ist es noch, das Lädelchen, in dem ich vor sechs Jahren eingekauft habe. Das also ist der Ort, wo mir die Idee für diese Wanderung, sagen wir mal: diese Reise gekommen ist. Ich sitze im Auto, schreibe ein SMS in die Schweiz, möchte fast weinen. Das schlichte Holzhaus, in dem wir vor Jahren die Highland-Games erlebt haben, ist eben abgerissen worden, die Fundamente stehen noch, das Holz liegt auf Haufen aufgeschichtet. Man habe eine neue Halle gebaut, sagt einer stolz. Das Hotel ist auch ausgeräumt und ausgehöhlt. Bis im Sommer soll es neu erblühen.

Kurzschluss

Beim dritten Anlauf erhalte ich ein Zimmer, trinke einen Tee, der Hausherr sitzt vor dem Fernseher: Nahost und verhaftete Hooligans. Er habe immer hier gelebt, sagt er, besitze fünfzig Schafe, der Sohn sei bei der Royal Airforce. Das Haus wirkt recht modern, alles neu eingerichtet – elf Jahre alt sei es, sagt der Gastgeber. Das alte sei abgebrannt vor elf Jahren. Kurzschluss. «Ist aber niemand verletzt worden?» frage ich. Und er: «I lost my brother.»

Der Tee war fein. Ich breche auf, es ist halb sechs, unternehme eine Wanderung ans Meer. Eine traumhaft schöne Bucht, feiner Sandstrand, ein einsames Haus. Ich setze mich in die Dünen, blinzle in die untergehende Sonne, trinke einen Schluck Wein und schreibe ein Briefchen: «Endlich Durness», notiere ich, «ich hoffe, dieser Zettel bringe mir Glück.» Stecke ihn in die leergetrunkene Rivella-Flasche, werfe sie ins Meer, doch die Wellen treiben die Flasche zurück. Fülle ein paar Muscheln rein, ein paar Steinchen, klettere auf einen Felsen und werfe nochmals. Kann die Flasche bald nicht mehr entdecken. Wohin treibt sie?
Schlendere zurück über Dünenhügel, Klippen und Felsen. Zwischen Schafen hindurch mit ihren Lämmern und davoneilenden Kaninchen. Das Handy erschreckt mich. Ein Freund aus der Schweiz. In überschwenglicher Freude erzählt mir Markus, dass er für ein Jahr nach Amerika auswandern, in Cambridge an der Harvard Uni studieren könne. Ich höre ihm zu, stolpere über die Weiden. Sonne im Meer, manchmal Wolken davor. Unter mir tosendes Meer, das Tang an die Felsen klopft wie Waschfrauen die Wäsche. Ein langer Weg zurück, ein Bier im Pub neben Jugendlichen, die sich den Samstagabend um die Ohren schlagen. Und dann klongt ein SMS von Rino, meinem Sohn: «Das mit der WG klappt. Livio zieht am Mittwoch ein.»

Mein Bed&Breakfast-Hotel ist schon dunkel. Alle Lichter erlöscht. Ich taste mich zu meinem Zimmer. Aus der finsteren Stube die Stimme des Hausherrn: «Noch einen Tee?» Ich lehne ab, und er rattert aus dem Sofa: «See you tomorrow.»

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