Archiv der Kategorie: Durness Sizilien

Sieht aus, als ob Kulissen stünden, 16. Mai 2002

Wir verlassen die Cumbria Berge und wandern durch Landschaften, wo Elfen tanzen lernen. Und erreichen schliesslich wieder eine ganz normale Stadt: Ulverstone.

Durness Sizilien 21
Die Cumbria-Berge im Lake District hinter uns – wir fahren auf dem Coniston-See.

Keswick in freundlichem Sonnenlicht tut fast ein bisschen weh: Soooo schön, soooo putzig, sooooo nice und niedlich. Die Leute achten darauf, dass mit heimischem Material gebaut wird, sagt der B&B-Wirt. Seine Laune steht irgendwie im Gegensatz zur heiteren Frühlingsstimmung draussen. Wir sind froh, das Haus verlassen zu können. Die Hausmauern also aus heimischem Gestein, die Dächer mit Schiefer gedeckt, Anschriften in golden verzierten Buchstaben. Manchmal farbige Neonröhren-Schriften, die in der Nacht allerdings nur sehr gedämpft leuchten. Die Räume sind tief, Balken sind freigestellt.

Und da dies alles so ordentlich aussieht, kommen die Leute aus den nah und fern liegenden Städten – aus Manchester, Birmingham und London. Und die Einheimischen geben wirklich Sorge: keine Fremdkörper, keine eilig hochgezogenen Hotelkästen wie in Frankreich, Österreich, Italien oder der Schweiz. In Zweier-, Dreiergruppen durchstreifen pensionierte Ortsansässige die Wälder und säubern die Wanderwege. Später starten dann die ebenfalls meist im Rentenalter stehenden Gäste und schlendern über die frisch geputzten Wanderwege. Hin und wieder sitzt ein Landschaftsmaler auf einem Stühlchen und malt den See, Cottages, eine Farm.

Alles wirkt unwirklich, fast unecht: Man bleibt stehen, erstaunt ob der Unversehrtheit, ertappt sich dabei, dass man in ein Nebensträsschen hineingeht, um zu sehen, ob das nicht alles Kulisse sei, ob hinter den Häuschen nicht Verstrebungen stehen, die diese Erscheinungen stützen wie in Hollywood-Dörfern. Aber es ist alles echt – die Häuser haben ringsum Mauern, sind bewohnt oder können zu Ferienzwecken gemietet werden. Die Teacakes in den kleinen Cafes sind essbar und sogar wunderfein und plötzlich löst sich der Argwohn – es ist eine wunderbare Landschaft, dieses Cumbria, die Leute hier haben erkannt, wo ihr Reichtum liegt: in den Taschen der Reichen und Wohlhabenden aus den Städten. Sie leben – wie mir eine Frau erzählt – alle vom Tourismus oder vom Bauern. Und sie kennen – im Unterschied zur Bevölkerung in unseren Tourismusorten, wie mir scheint – so etwas wie Mass statt Begierde nach Masse. Ihr landschaftlicher, natürlicher und architektonischer Reichtum genügt ihnen, sie verschandeln ihn nicht mit billigen Massenangeboten. Real existierender sanfter Tourismus, wie er in den Alpen meist nur in Programmen und allenfalls auf Papier besteht.

Die Elfen tanzen

Das ist nicht nur in Keswick so, auch in Grasmere. Da in der Nähe hat mich die «Taxifahrerin» gestern abgeholt und da fahren wir mit dem Bus wieder hin. Rucksäcke wieder angeschnallt, wir wissen nicht, wo wir abends sein werden, haben uns auch nicht erkundigt, ob es den Gepäck-Service auch gibt. Gemächlich durch die immer flacheren Hügel, bald nur noch welliges Gelände. Unter dem frischen Grün der Eichen, Buchen und Ahornbäume, über dem zart spriessenden Gras sind die Veilchen hochgeschossen – ein Hauch von Violett-Blau schwebt über der leicht gewellten Landschaft. Wer noch nie was von Elfen gehört hat, würde sie hier zwischen Ambleside und Conistopn erfinden, sie durch die Haine tanzen lassen.

Unvermittelt liegt der See von Coniston vor uns. Die rauhen Cumbrischen Berge nur noch eine Erinnerung. Manchmal ein Blick zurück, um sich zu vergewissern, dass sie eben durchschritten sind, gelb grüssen ginsterbewachsene Hänge. Am See der üppige Frühling. Schlendernde Rentner wieder, eine endlose Wiese mit riesiger Viehherde, der Stier wacht über Kühe und Kälber, Schafe fressen und auf einer Farm das verängstigte Schreien von Lämmern – bereits ist Schlachtzeit. Bedrohlich stehen hinter einer Steinmauer Männer, die den Hotels in der näheren und weiteren Umgebung das Fleisch zubereiten.

Ein Vergnügungsboot nimmt Monika und mich ein Stück weit mit. Erst als wir eingestiegen sind, merken wir und der Kapitän, dass unser Ziel eigentlich in der anderen Richtung liegen würde. Wir lachen, und der Kapitän sagt, in einer Stunde würden wir wieder am Ausgangsort sein. Heisser Tee aus der Flasche und der Wind des fahrenden Schiffes auf der Haut. Der Kapitän bringt uns an den alten Ort zurück, lässt uns weiterwandern an uralten Eichen vorbei, die zum drei-, vierhundertsten Mal ihr Laub austreiben, Äste in den See hinausstrecken so dick wie sonst währschafte Bäume. Wurzeln hängen frei in der Luft, einst hatten sie sich ins Ufer eingegraben, jetzt ist es weggespült.

Die Landschaft wird südwärts flach und flacher. Wir wählen einen Umweg, verlassen den See, folgen dem Cumbrian Way, wo sich der Pfad in verdorrtem Farnstroh verliert, durch das die neuen Pflanzen spriessen. Zeitweise eine archaische, fast biblisch anmutende Landschaft: Sanfte Hügel, die sich in der Weite verlieren, fast baumlos, dann Moorebenen, alles weit, weit, weit …

Alles wieder etwas normaler

Vorn blinken Sandbänke, Meerwasser und eine Stadt: Ulverstone. Eher befremdlich, dass hier wieder Fabriken stehen, Autofriedhöfe, Garagen, rauchende Schlote. Graue, unscheinbare und ärmlich wirkende Vorstadthäuser mit defekten Plastik-Spielsachen im Vorgarten, Abfall in den Strassengräben, Stapel von aufgeschichteten Kunststoff-Harassen. Billig-Warenhäuser. Schenken. Alkoholiker auf Steinbänken. Möbelgeschäfte mit Massenware. Ein Baugeschäft. Eine Stadt einfach, in der Leute leben. Leute, die sich eher in Blackpool als in Keswick vergnügen. Eher auf eine Chilbi gehen als in die «unverdorbene» Bergwelt. Eher ein Bier trinken als ein Glas Wein. Sich auf den Quiz-Abend im Pub freuen und nicht auf den Tea vor dem offenen Kaminfeuer.

Die Unterkunft in Church Walk Hall ist um einiges nüchterner als in den Cumbrischen Bergen – keine Porzellanteller an der Wand, auch keine Glasnippes oder Plüschtierchen auf jedem Sims. Ein schwules Paar führt das Haus, durchaus geschmackvoll. Statt Blumentapeten abgelaugte, tannige Holztüren aus dem Jahre 1720.
(Ulverston, 16. Mai 2002)

Der Verleider nörgelt, 20. Mai 2002

Durness Sizilien 25

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Der Verleider nörgelt, 20. Mai 2002

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Der Verleider nörgelt, 20. Mai 2002

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zu Fuss durch Wales

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Es mochte nicht so richtig Stimmung aufkommen, heute. Eine sehr verlassene Landschaft, in der ich kaum jemanden treffe. Und wenn – dann eher sonderbare Leute.

Text

Am Montag ist dieses Newtown noch trostloser. Es sind kaum mehr Menschen auf der Strasse zu sehen. Unser Wirt muss gestern Abend noch tüchtig einen draufgegeben haben. Er versucht, fröhlich zu wirken, will jedenfalls scherzen. Aber er fängt die Sätze nur an, lässt sich durch irgendwas ablenken und weiss nicht mehr, wo er begonnen hat.

Wir ziehen an Weiden vorbei, an diesen britischen, einstöckigen Häusern, schmucklos hier, schmuckloser zumindest als an allen Orten, wo ich vorbei gekommen bin, immer wieder verlassene Höfe, eingebrochene Dächer, hohle Fensteröffnungen. Tiere, Schafe, Rinder. Keine Menschen. Träg gewölbte Hügel, hintereinander, nebeneinander, sich ineinander verschränkend, meist baumlos – das war die Landschaft den ganzen Tag über. Manchmal ein Tal mit einem Fluss, auch einmal ein See an dessen Ufern sich die Büsche und Bäume drängten. Als Moni einen Bus zurück nach Newtown bestiegen hat, um Auto und Rucksäcke zu holen, habe ich mich ziemlich verlaufen.
Bald ein Haus bei Cardiff
Wieder zurück an den See. Setze mich hin und schaue aufs Wasser. Weiter vorn ist ein Wohnwagen parkiert, mit offener Türe. Plötzlich trifft mich etwas am Kopf. Ich schaue zurück und da steht ein Kind. Spreche es an und es schaut mich an, als ob ich vom Mars käme. Dann taucht eine Frau auf und noch zwei Kinder. Die Kleinen sind alle barfuss, die Frau trägt Sandalen und etwas an ihrem rechten Knöchel irritiert mich. Ist das nur Schmutz oder eine schlechtgeheilte Wunde? So genau kann ich nicht hinstarren. Die Kinder verstehe ich nicht, die Frau schon.
Sie ist jung, wie ihre Kinder dünn, die Haut weiss. Durchsichtig, sagt man dem. So voller blauer Äderchen.
«Wir wohnen im Wohnwagen, aber nicht mehr lange», sagt sie. Bald werden sie in ein Haus bei Cardiff ziehen. Ihr Mann arbeitet in Cardiff. «Computer», sagt sie. «Er hat ein Auto», sagt sie und am Wochenende komme er hierher. Manchmal auch während der Woche. Das Haus bei Cardiff sei bald fertig und das alte haben sie schon verlassen müssen.
Ob er denn Computer verkaufe? frage ich. Nein, sagt sie, er arbeite in den Computern drin. «Wenn du einem Computer eine Frage stellst, gibt er eine Antwort. Mein Mann schaut dafür, dass er Antworten gibt.» Dann fragt sie, was in meiner Flasche drin sei. Ich sage Tee. Okay, sagt sie, Tee. Sie packt den Kleinen, der mir einen Stein oder sonst was an den Kopf geworfen hat, am Arm und geht weg. Die andern beiden folgen. Zurück zum Wohnwagen.
Ich breche ebenfalls auf. Fast bedrohlich winken plötzlich Windräder auf einem dieser nackten Hügel, aber immerhin geben sie die Richtung an, weisen mir den Weg, auf dem sonst niemand geht, niemand, kein Mensch, kein Auto.
Verfahren
Und irgendwann höre ich doch einen Motor, ein weisser Lieferwagen kommt von hinten und hält auf meiner Höhe. Der Fahrer bittet mich, ihm den Weg zu weisen, er habe sich auf diesen immergleichen Strassen verfahren. Ein Düngertransport. Der Mann am Steuer in löchrigem Wollpullover ist kaum zu verstehen. Ich sage ihm , dass ich es für das Beste halte, wenn er den eingeschlagenen Weg bis zur dritten Kreuzung einhalte, dann nach links abbiege, um am ehesten nach Llanidloes zu kommen. Ich hätte geradesogut «nach rechts» sagen können. Aber «nach links» schien mir irgendwie logischer.
Er fährt los, ich ziehe weiter und frage mich, ob Moni den Weg nach Llanidloes wohl finde, wenn das so schwierig ist. Gehe immer geradeaus und denke über diese Familie im Wohnwagen nach. Moni hat nicht nur den Weg gefunden, sondern auch eine Unterkunft. Alles etwas trüb und düster hier – manchmal scheint mir, irgendwo in mir nörgele der Verleider.
(Llanidloes, 20. Mai 2002)
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Karte

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Eher etwas bedrückend, die Landschaft und die Begegnungen zwichen Newtown und Llanidloes.

«That’s an Idiot!», 21. Mai 2002

Durness Sizilien 26

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«That’s an idiot!» 21. Mai 2002

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«That’s an idiot!» 21. Mai 2002

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Zu Fuss durch Wales

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Weder Karte noch Wegweiser sind in diesem Teil von Wales eine grosse Hilfe – aber immerhin: Wir treffen in Llandrindod ein.

Text

Vor zwei Jahren, auf einer Wanderung in Italien, von Piacenza nach La Spezia, zum Teil auf einem alten Pilgerweg, fragte ich unterwegs einen älteren Mann nach dem genauen Weg ins nächste Dorf. Er gab mir einige Tipps und fragte, was denn mein Ziel sei. «La Spezia.» «La Spezia?» fragte er. «Wirklich nach La Spezia?» Er schwieg eine Weile, sagte dann, dass La Spezia ohnehin keine Reise wert sei, er sei in seinem ganzen Leben erst zwei Mal dort gewesen – aber zu Fuss! «Weisst Du, was Du bist. Tu sei pazzo, pazzo, pazzo!»

Ist mir heute beim Wandern ein paar Mal in den Sinn gekommen, dieser Spruch. Ich weiss nicht warum. Pazzo – verrückt! Bin bei niesligem Wetter aufgebrochen in Llanidloes, einfach mal einer Strasse entlang, die in einer Farm endete. Dann über einen Hag gekletert, durch Schafweiden hoch und dann hörte ich ein Auto. Ging in dieser Richtung, fand die Teerstrasse, wanderte ihr entlang, bis ich einen Bauern traf, der – eben aus einem zerbeulten Ford gestiegen – einen Zaun flickte. Ich hielt ihm die Karte unter die Nase und gemeinsam fanden wir heraus, wo wir standen. Es war schwierig ihn zu verstehen, da er mein Ansinnen eigentlich überhaupt nicht begreifen wollte. Irgendwann erinnerte er sich, dass der Glyndwr´s Way hier vorbeiginge. Und er hielt mich an, immer geradeaus weiter zu gehen.
Ein toter Dachs am Wegrand. Verirrte Schafe auf der Strasse, ein SMS von Rino, der mir mitteilt, dass es in der Schweiz sommerlich warm sei, er zudem am gestrigen arbeitsfreien Pfingstmontag den ganzen Tag im Büro gehockt und Pläne gezeichnet habe – wie weit weg diese Welt ist!
Auf der Karte sehe ich eine Abkürzung ins nächste Dorf. Ich klettere wiederum über verschiedene Zäune, bis mir ein kleiner Traktor mit breiten Pneus, die das Absaufen im Moor verhindern – bis mir also so ein Moortraktor auf einer Weide entgegenfährt und der Bauer mir mitteilt, dass ich die Richtung wechseln solle. Freundlich und verwundert über den seltsamen Weidengänger zugleich. Sonst könnte ich verloren gehen.
Durch abgeholzte Wälder zu wandern, ist etwas sehr Betrübliches. Endzeitstimmung. Und immer schneller ziehe ich los, an einer einladend schönen Telefonkabine vorbei, in der sich wunderbare Gespräche vorstellen liessen. Doch es fällt mir jetzt grad niemand ein, mit dem ich telefonieren könnte. Zudem habe ich mein Handy. Und im weiteren windet es so stark in Bwylch-y-Sarnau, dass ich weiterschreite, vor drohendem Regen fliehe und, früher als mit Moni abgemacht, nach schliesslich lauschigem Spaziergang durch einen Nadelwald in Abbey-chwm-hir ankomme.
Uralte Grabsteine
Abbey-chwm-hir, ein Nest inmitten von alten Tannen mit trutziger Kirche und einem Turm der sich in halber Höhe wölbt, als hätte er etwas Dickes verschlungen. Uralte Grabsteine, zum Teil umgekippt, die ältesten beherbergen Tote, die vor meines Grossvaters Geburt die Welt verlassen haben. Das «Happy Union Inn» ist wie die Kirche geschlossen, die Häuser ringsum ohne Lichter. Eine Frau fährt heran, parkiert und sagt, das Gasthaus öffne erst abends um halb neun.
Moni holt mich ab, hat einige Kilometer weiter eine Unterkunft gefunden. Dem Gastgeber hat sie erklärt, dass ihr Begleiter nachkomme, zur Zeit noch auf Wanderung sei. Sie gab Start und Ziel an, erzählte auch, dass ich Mitte Woche mit ihr nach London fahre und dann wieder zurück, um die Strecke an die Küste zu Fuss zu gehen. Der Gastgeber fragt nach, fragt, ob ich wirklich wieder zurück gehe. Und dann: «That´s an idiot.» Und irgendwie gruselt mich – habe ich nicht den halben Tag lang an jenen Alten in Italien gedacht: «Pazzo, pazzo, pazzo.»
(Llandrindod, 21. Mai 2002)
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Karte

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Der Kirchtum in Abbey-chwm-hir sieht aus, als ob er etwas Dickes verschlungen habe.
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Hügel, Hügel, Regen, 22. Mai 2002

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Hügel, Hügel, Regen – 22. Mai 2002

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Hügel, Hügel, Regen – 22. Mai 2002

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Wales zu Fuss

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Monis Ferien gehen zu Ende – wir wandern um die Elan-Stauseen und beschliessen, London anzusehen.

Text

Weitergehen? Llanddrindod – Builth Road – Builth Wells – Cardiff? Statt geradeaus südwärts zu wandern, sind wir nach Rhayader gefahren, mit leichtem Rucksack, ins Eland Valley hineinspaziert, plaudernd, haben uns Dinge erzählt, uns überlegt, warum es in Grossbritannien billiger ist, ein Auto zu mieten als im Zug umherzufahren. Wir beschlossen, zu Monis Abschied mit dem Mietwagen nach London zu fahren. Statt in privatisierten, engen, unbequemen und unpünktlichen Zügen. Politisch wohl nicht unbedingt korrekt.

Wer hat jetzt eigentlich von dieser Privatisierung profitiert? fragten wir uns beim Wandern. Die Kunden – nein, sie nicht. Der öffentliche Verkehr dient ihnen nicht. In Chester fuhren wie während unseres Aufenthalts mit drei verschiedenen Bus-Gesellschaften die Strecke von der Unterkunft in die Stadt. Zahlten dreimal unterschiedliche Preise. Nützt es den Einheimischen, drei unterschiedliche Angebote zu haben? Sie wollen doch einfach in die Stadt. Die Chauffeure wissen zudem nicht einmal von den anderen Gesellschaften – woher sie kommen, wo genau sie hinfahren. Den Kunden nützt die Privatisierung nicht. Den Besitzern? Kaum – nicht vorstellbar, dass mit solchen Linien, mit solchen Bussen, aber auch mit solchen Zügen sehr viel Geld zu verdienen ist. Wem also dient die Privatisierung? Ja natürlich: Der entlasteten Staatskasse, dem Steuerzahler also – dem Gutbetuchten vor allem, der entlastet wird. Letztlich wohl einfach ein ideologischer Entscheid, von dem nur wenige profotieren und unter dem die Öffentlichkeit vor allem eines tut – nämlich leiden.
Trinkwasser für englische Städte
Solcherlei Dinge erörternd und im Wissen, dass die ganze Sache wohl komplizierter sei, wanderten wir um die Elan-Stauseen – seltsam alte Mauern ohne erkennbare Turbinen-Anlagen, Stauseen auf drei Stufen – alle in einer gebirgigen Landschaft, in der Höhe kahle Berge, dem Wasser entlang märchenhafte Wälder. Die Staumauern haben mich fasziniert: schlichte Steinmauern, hinter welchen sich das Wasser sammelt. Ein Visitor Center kam uns gelegen, wir reihten uns in die Schlangen staunender Rentner ein und – tatsächlich – wir staunten auch: Die Seen wurden, was uns der Rundgang durchs Museum anschaulich zeigte wir aber fast nicht glauben konnten, tatsächlich um achtzehnhundertneunzig gebaut. Aber nicht, um Strom zu erzeugen, sondern um das hundertzwanzig Kilometer entfernte Birmingham mit Trinkwasser zu versorgen.
Wir kehrten zurück nach Llandrindod machen zwischendurch einen Halt in Rhayader. Ein wartender Zug im Bahnhof weckt nochmals die Diskussion, ob wir nicht doch das Auto bereits zurückgeben sollten an der nächstgelegenen Avis-Station. Doch nein, wir verspürten sehr stark der Wunsch, sofort weiterzugehen, weg aus diesem hügligen, regnerischen Wales, wo die Leute ihrem Alltag nachgehen, sich wie wir auf das Pint am Abend freuen aber sonst offenbar auf nicht sehr viel: Hügel, Hügel, Regen, Pint, graue Häuser und Hügel.
Oxford, Woodstock
Mit guten Wünschen und vielen Tipps des B&B-Hausvaters von letzter Nacht, der mich nochmals fragte, ob ich nach unserem Ausflug nach London tatsächlich zurückkehren würde, um zu Fuss an die Küste zu gehen, machten wir uns auf den Weg. Kurvig die Strasse nach Bristol, die rotierenden Scheibenwischer hielten die Sicht klar – und auf der Höhe von Oxford plötzlich der Wunsch, die Universitätsstadt zu sehen. Soviel Gelehrtheit, aber auch Abgehobenheit umweht diese alten Gebäude, die Gassen. Vor allem aber: Wieder einmal eine Stadt, wieder einmal belebte Strassen, Läden, Buchhandlungen statt nackter Hügel. Und ein kleiner Abstecher nach Woodstock – allein des Namens wegen –, das sich als Kleinst$dtchen entpuppt, in dem nun wirklich alles putzig ist. Ausser der Regen. Wir fahren weiter Richtung London durch die gepflegte, aber etwas eintönige Landschaft, unterteilt durch Hecken und Hecken, die sich bis weit hinauf nach Schottland gleichmässig über die ganze Insel ziehen, blühen und blühen und in mir den Wunsch wecken, irgendwann auf die Fähre zu steigen, die mich nach Frankreich bringen wird.
(Aldermaston, 22. Mai 2002)
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Mit dem Zug nach London? Verlockend sieht das Gefährt schon aus!
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London, 23. – 25. Mai 2002

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London, 23. – 25. Mai 2002

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London, 23. – 25. Mai 2002

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Urbane Pause auf der Wanderung durch Schottland, England und Wales

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Wanderpause – zu Monis Feriensschluss fahren wir nach London, tummeln uns in der Stadt und besuchen einen Feund.

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In Aldermaston haben wir in einer gepflegten Pension übernachtet, sind früh aufgebrochen, die Autobahn bald dreispurig, die Wanderschuhe liegen geputzt und gewichst hinter dem Sitz, der gemietete Ford rast hinter Lastwagen, Personenwagen. Moni überholt, überholt immer häufiger, bleibt auf der dritten Spur, rechts oben ziehen die Flugzeuge tiefe Kurven und auch auf der Überholspur wird es eng. Mit gedrosseltem Tempo, unvermittelt stärker auf dem Brems- als auf dem Gaspedal und noch siebzehn Meilen bis London.

Wir haben die weiten Ebenen, die von immergleichen Hecken durchzogene, in riesige Rechtecke unterteilte Ebene, verlassen, Strassen zweigen ab, Industriegelände tut sich auf, an den Rändern umsäumt von wertlos gewordenen Maschinenteilen, Autowracks, Schutt, Abfall. Die Landschaft hinter uns, die Stadt vor uns und die bange Frage: Finden wir das Avis-Center? Können wir das Auto bald abgeben?
Wir können. Wir finden das Center, und die Frau am Schalter gibt uns Tipps, wo wir ein günstiges Hotel finden. Plötzlich wieder den schweren Rucksack am Rücken, nicht einen footpath vor uns, aber Häuser, Häuser, Strassen, Verkehr, Ampeln, Lärm: London. Wir sind in der Nähe von Earls Court gelandet, die Häuser nicht hoch, Backstein auch hier, die Strassen weit, breit und lang. Fragen im ersten Hotel nach – eine Absteige für dreissig Pfund. Aber so doch nicht! Nicht das WC im Gang stört uns, oder die Dusche. Der Dreck! Die schräg hängenden Fenster, die abgelöschten Gesichter der Gäste. Wir überqueren die Strasse, mieten uns zu annehmbaren Preis bei Arabern ein, schliessen die Tür hinter uns: Welcher Lärm. Stadt! London!
Stadttouristen, was sie halt so tun
Drei Tage London vor uns. Drei Tage in der Hauptstadt des Landes, durch das ich bald vier Wochen gewandert bin und es noch eine Woche tun werde. Monika schaltet schneller um, organisiert die U-Bahn-Tickets – wir fahren, wie es naive Touristen nun halt tun, zum Picadilly-Circus, stechen erst mal in ein Pub, bestellen ein Glas Wein, eine Portion Chips, schauen Time-out an. Vor uns nichts als Rundgänge, Umgänge, ein paar Souvenirs für Monis Kinder und den Enkel.
So viel Hektik plötzlich: Trafalguar Square, Nelson, Thames, die Busse, die Cabs, die Bankers. Wir schlendern, erstaunt, sehen auch, wie London bei allen Eigenheiten halt auch globalisiert ist, teilweise eine Stadt ist wie so viele andere. Die Globalisierung hat sie alle ein bisschen ähnlich gemacht, die gleichen Filme wie in Zürich, Paris, die gleichen Auslagen in den Schaufenstern, Starbucks hier, Pizza dort.
Und ganz langsam entdecken wir das andere: Die Backstein-Architektur, den Fluss, in den noch das Meer hineinzeiht mit den Kranen dort weit unten, die Männer in Anzügen und Krawatten, mehr als anderswo, stärker durch alle Generationen hindurch krawattiert, aber weniger als Statussymbol, eher als Uniform, darum lockerer, nonchalanter getragen. Wenig öffentliche Armut in der Innenstadt, die grösser ist als anderswo, rötlich-grau, Backstein und Russ, unprätentiös und wenig Eleganz, aber Freundlichkeit und Gelassenheit trotz aller Hektik.
Tate Modern, Soho und Happy Hour
Es zieht uns ins Tate Modern, Picasso und Matisse ausverkauft, die freie Ausstellung grossartig, erdrückend die Breite der Werke, wir staunen uns durch, bewundern das Gebäude, die Ausblicke auf die Stadt jenseits der Thames. Beeindruckend gebaut, aber bereits bröckelnd, die filigrane Brücke ein kleines Kunstwerk, offenbar – wie wir später erfahren – erst seit kurzem wieder eröffnet, nachdem mühsam Statikprobleme behoben werden mussten. Ein Spaziergang durch Soho, Happy Hour, die Pubs gestossen voll, man trifft sich, gelassene Heiterkeit, Geschwätz, Gelächter, kleine spontane Feiern – und plötzlich sind die Beizen leer. Alle drängen zum Aufbruch, heimwärts, Dinnerzeit. Wir suchen ein chinesisches Restaurant auf, es ist teuer, die Leute, die hier verkehren, müssen recht gut verdienen.
Und so der zweite Tag: Regent-Street, Oxford-Street, wir sitzen in Pubs, sitzen an den Tischchen auf der Strasse, bewundern fröstelnd die Engländer: In steifer Bise in die Jacken geschlungen schauen wir zu, wie sie jede regenfreie Minute nutzen, sich die Jacken und Pullover auszuziehen, um die paar Sonnenstrahlen zu geniessen.
Ein Besuch in Balahm
Dann die Fahrt nach Balahm zu Stefan Howald, einem alten Freund aus Tages-Anzeiger-Zeiten. Vor zehn Jahren hat er seine Stelle als Kulturredaktor aufgegeben, ist nach London gezogen und lebt hier als freier Journalist. Er wohnt, wie er sagt, noch sehr im Zentrum von London, doch die Zugsfahrt dauert eine Viertelstunde. Er holt uns vom Bahnhof ab, begleitet uns durch die Einfamilien-Backsteinhäuser-Zeile zu seinem Heim, schön und schlicht, auf kontinenal-europäische Weise gediegen. Die Wohnung besticht durch ihre Schlichtheit, keine Blumen auf Tapeten, überhaupt keine Tapeten, einfach gestrichene Wände, kein Firlefanz, wenig Möbel – ein Aufatmen nach so viel B&B-Wohnungen in Schottland, England und Wales.
Stefan erzählt von den hohen Hauspreisen und Mietzinsen, von den recht hohen Löhnen in London, die noch aus der noch gar nicht so lange vergangenen Zeit des Dotcom-Hypes nachklingen, als die Banken im Gefolge der rekordhohen Börsen-Flüge jegliches Mass an Gewinnen und Löhnen verloren. Die Zeiten sind vorbei, aber die Preise sind noch immer hoch. Viele Leute leben auf Pump. Wer wenig verdient, muss auswärts wohnen, weit auswärts: Er wohnt zwar in London, fährt aber dreiviertel Stunden lang in die Stadt zur Arbeit und ebenso lang wieder zurück. Schlechtverdienende müssen sich durchschlagen, die Armut versuchen auch sie zu verstecken.
Der öffentliche Verkehr: Ein Chaos, nicht nur die Züge aufs Land, auch die U-Bahnen. Stefan wundert sich, dass die grossen Firmen in der Stadt nicht längst schon mehr Druck machen – sie verlieren Unsummen von Zeit und Geld mit ihren Angestellten, die immer mit grosser Verspätung zur Abeit kommen. Gewiss, mit der Privatisierung hätten einige Bahngesellschaften auf einigen Linien etwas Geld verdient, viel sogar. Aber die Privatisierung habe letztlich doch mehr Verlierer hinterlassen, auch in anderen Bereichen. Das schlage auf alle Gebiete durch: Schulen, Gesundheitswesen, das zwar recht gute Grundversorgung biete, aber alles darüber Hinausgehende sei nur für Wohlhabende einigermassen zahlbar. Und wir reden und schwatzen, auch über die Einsamkeit des Korrespondenten, des freien Journalisten im besonderen. Ich denke ein bisschen daran, dass mir in wenigen Monaten Ähnliches in Paris blühe.
Carlino oder: Stuart Hood
Stefan erzählt von seiner letzten grösseren Arbeit. Er hat das Buch «Carlino» des britischen Offiziers Stuart Hood ins Deutsche übersetzt. Hood wurde im September 1943 aus einem Kriegsgefangenenlager in Norditalien, in der Nähe von Parma, entlassen. Er will sich dem italienischen Widerstand in der Toskana anschliessen und schlägt sich durch den Apennin von Bauernhof zu Bauernhof durch. Stefan Howald hat den 87-Jährigen Ex-Offizier getroffen, hat sich ausgiebig mit seinem Leben und Werk auseinadergesetzt und hat die Übersetungsarbeit soeben abgeschlossen. Wenn ich zurück in der Schweiz sei, sagt Stefan, sei das Buch wahrscheinlich auf dem Markt.
Schmerzhafter Abschied
Und dann kommt der Samstag: Wir räumen das Hotelzimmer, ein paar letzte Kommissionen, Gepäck schultern, in der U-Bahn zur Victoria-Station: Ein Abschied, der weh tut. Ohne Drama, in seiner Bestimmtheit aber schmerzhaft. Begleite Moni zum Zug, wir haben noch etwas gegessen, haben uns umarmt – und dann bin ich gegangen. Zur U-Bahn zurück: Waterloo. War das jetzt eigentlich unsere Abschiedsreise?
Als Monika in Gatwick abhob, sass ich bereits im Zug – dorthin, wo wir hergekommen sind. In Salisbury stieg ich aus. Habe ein Hotelzimmer genommen. Schnell die sehr, sehr schöne und eindrückliche gotische Kathedrale besucht. Wieder auf dem Land. Wieder allein. Ziemlich allein.
(London, 25. Mai 2002)
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Die Millennium Bridge beim Tate Modern-Museum ist eben wieder eröffnet worden, nachdem sie wegen statischer Probleme monatelang gesperrt war.