Ein Hauch von Wales, 19. Mai 2002

Wales? Ein Land – ein Teil von Grossbritannien. Ein bisschen ein Niemandsland ohne touritische Höhepunkte. Wales ist einfach da, und es leben Leute hier, die einfach mal hier auf die Welt gekommen sind. Eigenwillige Menschen, unprätentiöse, liebenswürdige, schrullige.

Durness Sizilien 24
Die Architektur der Gebäude zwischen Llanymynech und Newtown ist manchmal etwas eigenartig.

Der Wirt vom Lion Inn in Llanymynech klopft um halb neun an die Tür und ruft «breakfast». Er serviert, als wäre er einmal Offiziersordonnanz gewesen, mit zurückhaltender Freundlichkeit und Strenge. Und leicht gackernd eben. Ein anderes Paar sitzt im niedrigen und düsteren Speisesaal. Er erklärt ihnen, dass ich auf einer langen Wanderung sei und befiehlt mir: «Sagen Sie denen, wohin Sie wandern.» Und dann bat er um die Erlaubnis, von den unüblichen Dingen zu erzählen, die er im Leben geleistet hat. Zum Beispiel, dass er in der Army Dienst geleistet habe. Gestern abend hatte er davon nicht erzählen dürfen, seine anwesende Tochter hatte sich mit grosser Entschiedenheit dagegen gewehrt. Er fragt mich, ob ich auch Dienst geleistet habe. Er schon, er war in Malaysia. Ich sage, im Militär sei ich Radfahrer gewesen, das sei aber längst vorbei und nun hätte ich nur noch das Swiss-Army-Knife. Da weiss er wieder nicht, ob ich ernst zu nehmen sei.

Die Wanderung ist zu Beginn nicht sonderlich spannend, erst durchs ärmliche Dorf, dann zurück, weil es die falsche Richtung und danach durch einen anderen Dorfteil, ebenso heruntergekommen. Aggressive Hunde hinter Zäunen, bleiche Waliser, die sich unter diesigem Himmel auf einen ereignislosen Sonntag gefasst machen.

Kein Platz im Boot

Unerwartet stehen wir am Shropshire Union Canal, der sich längs durch Wales zieht, auf Aquädukten Flüsse überquert – ein offensichtlich nicht mehr benutzter Kanal, voller Seerosen, Schling- und anderen Wasserpflanzen. Ein morsches, farblos gewordenes Holzboot treibt darin, angetrieben von einem tuckernden Motörchen, und das Paar, das darin sitzt, scheint ziemlich verkatert zu sein. Sie zieht fröstelnd die Jacke enger und er beobachtet besorgt das Benzin, das aus dem Motor in den Kanal rinnt. Ein weisses Hündchen zwischen ihnen kläfft, und der Mann sagt, leider reiche der Platz schon kaum für sie drei, sie könnten uns nicht mitnehmen.

Den Kanal säumen Büsche in heftiger Blüte, wir kommen zügig voran, verlassen den Pfad, durchqueren Wiesen, der Pfad führt kilometerlang dem sechshundertjährigen Grenzwall zwischen Wales und England entlang, ist zum Teil subversiv untergraben von Kaninchen oder höhnisch verschissen von schwarzen und braunen Rindern.

Wir ziehen an schmutzigen Farmen vorbei und in eine geraten wir versehentlich hinein. Der Kuhmist steht knöchelhoch, es graut uns und verwundert stehen wir dem Bauern gegenüber, der in Pantoffeln darin rumlatscht. Wir hätten uns verlaufen, sagt er und stellt verwundert fest, dass wir englisch sprechen. Letztes Jahr habe sich eine holländische Frau auf seinen Hof verirrt, die habe auch englisch gesprochen. Warum eigentlich, fragt er, spricht die ganze Welt englisch?

In Whelpol trennen wir uns, Moni fährt mit der Wirtin vom Lion Inn, die ihre steinalte Mutter hier besucht hat, zurück zum Auto. Wir haben das am Morgen so abgemacht, als wir erfuhren, dass sonntags keine Busse fahren. Wir würden uns später wieder treffen.
Wenige Kilometer vor Newtown lud mich Moni auf und wir fuhren durch ein paar Haupt- und Nebenstrassen, an architektonisch merkwürdigen Häusern und Gebäuden in kleinen Weilern vorbei, oft links und rechts eingezäunt von meterhohen Büschen, bis sich unter uns das Städtchen auftat.

Newtown: Ein krasser Gegensatz zu Carlisle, Keswick oder Chester. Schmucklose Backsteinbauten entlang einer Strasse, die sich über einen Fluss und jenseits einen Hügel hinaufzieht. Einige Kneipen, dröhnend laute Musik, darin – und auf den Strassen überhaupt – kaum Erwachsene, nur Jugendliche, die Münzen in Spielautomaten werfen, Juboxes füttern (und gute alte Rockmusik rauskitzeln) oder Billard spielen. Und sich vor allem volllaufen lassen. Sie sprechen – soviel wir verstehen – davon, wie man zu Jobs kommt. Eine andere Welt, hier in Newtown – ruppiger, verwahrloster, hoffnungsloser als andernorts.

Freudenhaus

Im ersten Hotel ist die Reception verwaist. Ich warte, hinter mir gehen Leute ein und Haus, Männer meist, manchmal ein Paar. Ich beuge mich über den Empfang, versuche einen Blick ins Empfangsbuch zu werfen, die Zimmer scheinen mir alle besetzt, aber nur für Stunden. Mir dämmert: Das ist ein Freudenhaus. Die Frau von der Reception kommt und sagt, wir könnten durchaus ein Zimmer haben. Für eine oder für zwei Stunden. Bei ihnen sei es etwas busy. Andernfalls: Das knallgelb angestrichene Backsteinhaus am anderen Ende der Strase sei auch ein Hotel.

Der Wirt dort ist etwas angetrunken, holt sein Gästebuch hervor, schaut auf die zwei blanken Seiten und sagt: Zimmer vier ist frei. Wir gehen die Treppe hoch, schliessen die Tür auf. Eine Frau von hundertfünfzig Kilo schlingt verängstigt ein Leintuch um ihren mächtigen Busen und schreit in einer unverständlichen Sprache auf uns ein. Wir melden dem Wirt, dass das Zimmer belegt sei. Er nimmt einen Schluck, schlägt die beiden leeren Seiten wieder auf und sagt: «Oh God, das war falsch.» Er klaubt andere Schlüssel hervor – Zimmer sieben ist frei: «Wirklich, ihr könnt sicher sein, da ist niemand drin.»
Im übrigen, sagt der Wirt weiter, möge er nicht kochen, die vielen Menus auf all diesen Tafeln seien nur für Werktage. Vielleicht erhalte man vorn, rechts um die Ecke etwas. Das ist so, Chips und Chicken-Curry. Oder Reis und Chicken-Curry.
(Newtown, 19.Mai 2002)

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