Geniale Lokalkulisse für Global Players

Spur durch Deutschland, Altusried – Kempten, 24. Juni 2020. Ein echtes Dirndl im Badzimmer grad nach dem Frühstück. Ich denke über die Traktoren nach, die sich wie grosse Insekten über die Felder bewegen, beschliesse, diesen Tag etwas ruhiger anzugehen und bleibe im Lokalkolorit von Kempten hängen.

Sieht fast aus, als ob grosse Insekten über die Felder eilten

Der Wirt vom Altusrieder Bären stellt mir ein reichliches Frühstückstisch hin, so «wie ich’s auch gern mag». Ich unterhalte mich mit dem radelnden Paar aus Ulm, mit dem ich die Dachwohnung geteilt habe. Sie empfehlen mir, auf meiner Reise den Dom von Ulm zu besuchen, sein Turm sei der höchste der Welt. Das Fischerviertel mit dem Schiefen Haus müsse ich mir auch ansehen. Sie entschuldigen sich, dass sie am Abend so lange Fernsehen geguckt haben, aber ich habe nichts gehört. Ich habe im oberen Teil der Dachwohnung geschlafen – zwei Zimmer mit eigenem Bad für 40 Euro.

Wir verabschieden uns, ich gehe nochmals hoch, packe meine Sachen, will im Badezimmer die Zahnbürste holen, doch da ist schon jemand drin. Ich denke, es sei die Putzfrau, klopfe an, trete ein und bin verblüfft. Eine Frau in einem Dirndl steht vor meinem (!) Spiegel und schminkt sich. Es ist ihr gar nicht peinlich. Sie ist die Kellnerin hier, hatte in der Früh einen anderen Dienst an anderem Ort, wo sie Jeans trug. Hier ist Dirndl angesagt und im Nebenzimmer hat sie sich auf den neuen Dienst vorbereitet.

Von Altusried nach München führt der Weg über Kempten, wenn man einen kleinen Bogen in südlicher Richtung in Kauf nimmt. Kempten möchte ich sehen. Der Weg dahin führt durch Wälder über lange Feldwege, eine Freude für Wanderer. Die Landschaft weit wie immer in diesen Tagen, der Himmel blau, die Vögel singen und die Luft riecht nach Heu und frisch gemähtem, trocknendem Gras. Mir fällt auf, dass es hier nirgends diese gepressten Silage-Ballen zu sehen gibt, in weisse, grüne oder rosa Kunststoffplanen eingewickelt, wie bei uns. Diese riesigen Mozarella-Kugeln, die auf den Wiesen herumliegen.

Ein heuender Bauer erzählt mir, dass es die dann schon gebe. Aber erst später im Jahr. Zuerst füllt man die Heustöcke, dann die Silos und erst dann beginnt man mit den Ballen. Zurzeit steckt man in der Heu-Phase. Überall ziehen Traktoren über die endlosen Wiesen und werfen mit den Heuwendern das trocknende Gras auf. Aus der Ferne sieht es aus, als ob Insekten durch die Landschaft eilten und Staub aufwirbelten. Nur ist es eben nicht Staub sondern Gras. Das mit den Insekten ist vielleicht ein schlechter Vergleich, aber es kommen mir eben immer Insekten in den Sinn und dann sage ich mir, dass in manch guter Stube ein schräges Bild hängt.

Kommt man in ihre Nähe, wirken diese Landmaschinen ziemlich bedrohlich. Von hinten nähert sich ein Riesentraktor mit aufgeklapptem Wender und zwar in erstaunlichem Tempo. Der Weg ist schmaler als die Maschine, ich eile zur Seite und eine Frau ruft: «Wohin wird das noch führen?» Der Vorwurf in dieser Frage gilt nicht mir, der ich auf ihren Platz geflüchtet bin, sondern den Landmaschinen, die jedes Jahr grösser werden, wie sie sagt. Sie wohnt in dieser wunderschönen Mühle, ein Haus von mehr als dreihundert Jahren, doch nun will sie es vorübergehend verlassen, Fachwerkbau mit knallblauen Läden, um in Bamberg zu studieren. Sie muss erst das Abi nachholen und könnte auch in München studieren, aber Bamberg ist günstiger. Von den Kosten her. Ihre sechzehnjährige Tochter bleibt hier.

Gute Reise

Solche Sachen erfährt man, wenn man sein Leben vor heranfahrenden Traktoren in Sicherheit bringt. Sie isst nur Fleisch vom Metzger und nicht vom Grosshandel, Fernsehen schauen tut sie nicht, weil sie positive Nachrichten lieber mag als diese negativen in den Medien. Dann möcht ich ein Bild von der Mühle machen, sie sagt, ich soll das tun, winkt kurz und wünscht eine gute Reise.

Zwischen Bäumen hindurch erblicke ich die zwei Türme der St. Lorenz-Basilika. Das ist Kempten. Ein paar Kilometer noch. Vor den Toren der Stadt übt ein Bildhauer sein Kunsthandwerk aus und spielt so ein bisschen mit Corona-Allegorien, wenn man dem gütigerweise so sagen will.

Allegorien können auch mal peinlich sein

Kempten möchte ich mir ein bisschen anschauen. Im Zentrum angekommen, setze ich mich vorerst auf ein Mäuerchen auf dem riesigen Rathausplatz, wo sich Touristen mit Eis und ähnlichem verköstigen. Ich will mir einen Plan zurechtlegen. Weit komme ich nicht damit, denn eine Turnlehrerin, die wegen Corona arbeitslos geworden ist, spricht mich an und fragt, ob dieser grosse Rucksack an meiner Seite mir gehöre und ob ich eine Unterkunft suche. Sie steckt sich eine Zigarette nach der anderen an, und ich sage, Kemptens Übernachtungsangebote seien mir zu teuer. Sie war schon auf dem Jakobsweg, allerdings nur vier Tage, kennt dennoch die Sorgen von müden Wanderern, steht auf, geht hinüber zur Wirtin vom Sissi und kommt mit der Nachricht zurück, ich möge doch in der Chaplin-Bar anrufen. Die Chaplin-Bar ist eine Rock-Bar und daneben steht noch eine andere, das Zimmer günstig, der Charme herb und die Nachtruhe vermutlich durchzogen.

Rathaus in Kempten – imposant und herausgeputzt

Nun schau ich mir die Stadt an, eine der ältesten Deutschlands, von den Römern gegründet als «Campodunum». Obwohl die Nazis hier sehr aktiv waren und verschiedene Fabriken für Hitlers Armee und Luftwaffe arbeiteten, haben sie die Alliierten nur marginal zerstört. Das erhaltene mittelalterliche und barocke Kempten ist in den letzten Jahren mit wahrscheinlich grosser Liebe, gebildetem Geschmack und sicher viel Geld herausgeputzt und renoviert  worden und zwar so, dass man nur die Verkehrstafeln abschrauben müsste, um Filme in historischer Kulisse zu drehen. Soviel Perfektion wirkt kühl. Unten auf dem Ratshausplatz sitzen die Touristen, die Eis schlecken. Um sechs schliessen die Eisdielen, und der Platz leert sich. Oben in der Fischerstrasse sitzen die shoppenden Einheimischen und schlecken ebenfalls Eis. Um sechs schliessen die Geschäfte und die Leute gehen heim.

Die Einwohnerinnen und Einwohner wissen, wo es gemütlich ist

Vor perfekter Altstadtkulisse stehen Sonnenschirme und versprechen Gemütlichkeit: Allgäuer Brauhaus, Zötler Bier, Das Allgäuer Sonntagsbier. Die Gastro-Angebote sind global – Pizza, Mediteran, Orientalisch, Kebap, Indisch und was das Herz begehrt. Und in den Häusern mit dem Lokalkolorit geht’s hinein zu Hallhuber, H&M, Marc O’Polo, Marccain, Tui-Reisen und was immer man sich wünschen mag. Die Welt ist angekommen in Kempten. Wegen Corona hat die Stadt hat den Gaststätten erlaubt, ihre Tische hinzustellen, wo sie sie sonst nicht hinstellen dürfen. Dort gibt es dann hübsche Nischen, um gemütlich beisammen zu sein.

Ein Gedanke zu „Geniale Lokalkulisse für Global Players

  1. Lieber Urs
    Danke, dass Du mich auf den Verteiler Deiner Spur durch Deutschland genommen hast.
    Habe Deine Schilderungen sofort ins Herz geschlossen und amüsiere mich köstlich. In diesen ersten Tag noch alles in etwa wie bei uns, nur deutlich billiger und – vor allem – freundlicher.
    Und wie geht es Deinen Füssen? Offenbar noch nicht allzu blutig, koost ja mächtig vorwärts. Weiter so! Im Geiste wandere ich mit.

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