Freie Sicht aufs Mittelmeer

Rund ums Baselbiet, Etappe 13 von Hauenstein nach Anwil – 19. März 2020. Es sieht bei diesem dunstigen Wetter aus, als habe jemand die Alpen weggeräumt. Dafür taucht eine mir unbekannte Frau auf, mit der ich verwandt bin, und ein Ehepaar erzählt, dass es «seit Corona» häufiger streitet.

Ruine Homburg und zu ihren Füssen Läufelfingen und hinten Känerkinden
Darf man noch? Es droht eine Ausgangssperre, wie man das nur in den Nachrichten aus Kriegsgebieten hört, aber sie ist noch nicht ausgesprochen worden. Bahn und Bus sind für mich tabu – Moni besteht darauf, mich auf den Hauenstein zu fahren und lädt mich aus, wo sie mich am Montag aufgeladen hat. Ich weiss, dass mich eine anstrengende Etappe erwartet, auch wenn ich mir bereits geschworen habe, diesmal dem Grenzverlauf in grosszügiger Interpretation zu folgen.

So steige ich von der Passhöhe nicht direkt auf die Reisenegg hoch, sondern umgehe sie linkerhand über den Hof Reisen, gelange auf einem hübschen Spazierweg, der aussieht wie ein alter Saumweg, auf die Wisenmatt, am Wisener Scheibenstand vorbei ins Dorf Wisen und dort durch ein ordentliches Einfamilienhausquartier hindurch auf einen Feldweg, der mich zum Wohnheim Hupp führt. Ein paar Kinder rennen umher.

Oberhaln Wohnheim Hupp
Zwei, drei Männer werkeln an etwas, schauen mich misstrauisch an, irgendwo geht eine Türe auf, der grosszügige Spielplatz ist leer, man sieht wenig Leute. Drei junge Frauen und ein Mann trinken hinter einem der Gebäude einen Kaffee. Sie grüssen freundlich, winken sogar und ich frage mich, wie ich reagieren würde, böten sie mir einen Kaffee an. Aber das darf man ja gar nicht mehr. Ich steige an ihnen vorbei zum Biohof Obere Hupp.

Turm auf dem Wisenberg
Der Wisenberg, mein letzter Tausender auf dieser Kantonsumrundung, baut sich mächtig auf vor mir und ich steige gemächlichen Schrittes Meter um Meter hoch, kümmere mich weder um Grenzverläufe noch um Grenzsteine. Es wäre auch schade, hier der Grenze zu folgen, denn das Baselbiet greift aus ins Solothurnische und ich käme gar nicht bis zum Turm hin, weil er schon tief innen im Kanton Baselland liegt. Keine Menschenseele dort oben, ich steige die über hundert Treppenstufen hinauf und esse, auf der Plattform angekommen, ein Brot. Die Aussicht wirkt etwas blass, nur matte Farben und die Alpen sieht man gar nicht im Dunst. Als ob es sie nicht gäbe!
Ausblick vom Turm Richtung Westen

Beim Abstieg verzichte ich auf den Umweg über den Rütihof, weil ich dort vor kurzer Zeit schon mal durchgegangen bin und mich an die felsigen Hänge erinnere. Ich steige durchs Dickicht den Hang hinunter, stolpere dabei im abschüssigen Niemandsland kurioserweise über einen sehr alten Grenzstein, den wahrscheinlich schon lange niemand mehr besucht hat und denke darüber nach, dass Grenzen in diesen Tagen wieder eine Bedeutung erlangen, die man ihnen noch vor kurzer Zeit nicht zugemessen hätte. Länder machen Grenzen dicht und wenn hierzulande eine Kantonsgrenze einer bewohnten Strasse entlangführt, wie ich das in Basel zu Beginn dieser Kantonsumrundung erlebt habe, gilt auf der einen Seite eine andere Ausgehbeschränkung als auf der anderen.

Die Beine sind nach der «Besteigung» des Wisenbergs bereits so schwer, dass ich einen Moment daran zweifle, heute bis nach Anwil zu kommen, und dann frage ich mich auch, warum die Solothurner unbedingt dieses Dorf Wisen haben an sich reissen müssen, das so über den Jura hinaus in den Norden hängt. Würde Wisen zum Baselbiet gehören, hätte ich direkt vom Hauenstein zur Schafmatt gehen können. Im Gegenzug hätten die Solothurner Langenbruck annektieren können, dann wäre das Wandern am Montag etwas müheloser vonstatten gegangen. Man könnte mal historische Zöpfe wegschneiden und alles etwas neu sortieren und ordnen.

Hier geht’s durch: Wegweiser in Wisen
Dann nehme ich in Wisen die Strasse nach Moskau und Peking, wie kurioserweise auf dem Wegweiser steht, und muss nun wieder all die Höhenmeter, die ich heruntergestiegen bin, hochsteigen bis zur Schafmatt. Es ist aber eine sehr schöne Wanderung durch einen frühlingserwachenden Wald, stetig aufwärts auf fast wieder 900 Höhenmetern an den Bergmatten vorbei zum sogenannten Burggraben und wie ich dahin komme, steigt eine Erinnerung hoch: Ungefähr an diesem Ort muss es gewesen sein, wo meine verstorbene Gotte Rita und ihr Mann vor fünfzig und mehr Jahren einen Wohnwagen stehen hatten und zwar während des ganzen Jahres und mehrere Jahre lang. Er war von weit her und von vielen Orten als weisser Punkt zu sehen, bis dann der Breitenstein Willi kraft seines Amtes in der Gemeinde – später sass er für die SVP dann auch noch im Landrat – dem frivolen Treiben ein Ende machte und das Landschaftsbild von diesem Wohnwagen säuberte. So hat man sich das in unserer Familie erzählt. Wenn jeder käme und seinen Wohnwagen an den Waldrand stellte, soll er gesagt haben. «Wenn jeder …» – das ist immer ein gutes Argument. Damit lassen sich Auswüchse jedwelcher Art im Keim abwürgen. Das gäbe ein Chaos, wenn jeder mit dem Wohnwagen da hinauf fahren würde. Wenn jeder machte, was er wollte. Wenn jeder …
Überraschende Bekanntschaft: Nicole mit ihren Buben

Und dann erkannte ich den Ort tatsächlich wieder: Dort vorn hatte der Wohnwagen gestanden. Es musste dieser Ort sein. Leider war die Sitzbank an diesem wunderherrlichen Aussichtspunkt schon besetzt. Eine junge Frau hatte Picknickkörbe drauf gestellt und machte mit drei Knaben ein Feuer. Ich ging dann trotzdem hin, um ein Bild von der beeindruckenden Aussicht zu machen, kam mit der Frau ins Gespräch und sie erzählte, dass sie die Wiese für den Sommer parat mache, Zweige und Äste wegräume. Darauf erzählte ich von einem Wohnwagen, der mal hier gestanden habe und nach wenigen Worten fanden wir heraus, dass wir verwandt sind. Nicole Grieder ist eine Enkelin meiner Gotte und an deren neunzigstem Geburtstag waren wir beide dabei. Wir plauderten in vorschriftsgemässem Viren-Abstand eine ganze Weile miteinander, erfuhren das und jenes, und dann klickte ich noch ein Bildi.

Der Weg zur Schafmatt dann sehr malerisch, prächtige Aussichten in den Jura, aber immer noch das grosse Nichts Richtung Süden. Der Dunst lag vor den Alpen, von der Schafmatt aus wirkte es, als habe man freie Sicht aufs Mittelmeer. Die Sternwarte lag still und verlassen auf der

Malerischer Weg durch Bergmatten
Wiese, Traktoren zogen über die Wiesen, eggten die Felder und nun stand mir noch der Aufstieg auf die Geissfluh bevor. Nicht ganz auf tausend Meter, aber fast, und das erst noch ziemlich steil. Ich keuchte. Und das Bänklein auf der Geissfluh war besetzt. Ein Ehepaar in meinem Alter sass da drauf, und sie hätten mir auch Platz gemacht, doch das war nun eben nicht erlaubt. Zwei Meter Abstand. Wir schwatzten ein wenig, schauten betrübt in die Landschaft und fragten uns, wie lange das wohl noch gehen werde. Sie gehören auch bald zur Risikogruppe. In einem Monat jedenfalls, sagt er. Dann sei er 65. Und das enge Zusammensein könne schon belastend werden, sagt sie. Seit Corona hätten sie mehr «Lämpen» als sonst. «Seit Corona» wird wohl eine neue Referenz, denke ich später. «Seit Christi Geburt, seit Ende des Zweiten Weltkriegs, seit der Finanzkrise …»

Aargauer Grenzstein
Einige hundert Meter weiter auf der Krete Richtung Saalhöhe macht die Kantonsgrenze zwischen Solothurn und Baselland einen Rechte-Winkel-Knicks linkerhand steil runter. Ginge ich auf der Krete ein paar Meter weiter, würde ich bereits an die nächste Kantonsgrenze stossen – jene zwischen Solothurn und Aargau. Dieser schmale Streifen Solothurn legt sich von Süden her über die Jurakette hinaus und weitet sich nördlich hinunter zum Gemeindegebiet des solothurnischen Kienberg aus. Ich gehe dann tatsächlich die paar Schritte bis hinüber, schnuppere kurz am Kanton Aargau, fotografiere den Grenzstein und steige den Geissacker hinunter, über die Grossrütti und das Schnäpfenflüeli Richtung Anwil und zwar genau bis zum Punkt, wo die Strasse zwischen Ammel und Kienberg die Kantonsgrenze überquert und ein Jesus an einem Kreuz am Strassenrand hängt.



Und morgen geht’s an dieser Stelle weiter nach Maisprach

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