Ein Schwarzwälder Kommissär für landwirtschaftliche Zuschüsse macht einem Schweizer Gast klar, dass ein AKW auf jeden Fall eine sichere Sache sei.
Wellen frischer Heudüfte säuselten in regelmässigen Intervallen über die Terrasse des Gasthofs Hirschen im Schwarzwälder Weiler, wo wir uns zum jährlichen Familientreffen zusammengefunden hatten. Manchmal näher, manchmal ferner brummten die Traktoren mit ihren Ladewagen. Das emsige Treiben der Bauern auf dem Dachsberg hätte uns, die wir schon stundenlang bei einer Art Apero sassen, fast etwas beschämen können.
Als ich dann meinen Beinen etwas Auslauf geben wollte, mich von der Runde erhob und ein paar Schritte die Strasse aufwärts machte, begegnete ich einem dieser gschaffigen Männer. Ihm kam ein kleiner Schwatz ganz gelegen, und so berichtete er, wieviele Heuladungen sie heute schon eingebracht und wieviel sie am morgigen Sonntag zu bewerkstelligen gedächten. Vollerwerbsbauern gäbe es im Ort nur noch einen, alle anderen gingen einer anderen Beschäftigung nach und deshalb müssten sie an den Wochenenden eben arbeiten.
Zuschüsse für dies und für das
Er selbst hatte das Glück (und natürlich als studierter Agronom auch das Verdienst) auch hauptberuflich der Landwirtschaft verbunden zu sein. Er amtete als eine Art staatlicher Kommissär und sorgte dafür, dass die Bauern im Ort zu ihren mannigfaltigen Zuschüssen kamen: von der EU, von der Republik, vom Bundesland. Zuschüsse für ökologische Leistungen, für Freihaltezonen, für artgerechte Tierhaltung und dergleichen mehr. Wir vertieften uns schnell und ausgiebig in Vergleiche zwischen Deutschland und der Schweiz und weil nach einer Viertelstunde auch noch meine Nichte, die Bäuerin gelernt hatte, zu uns stiess, wurde die Unterhaltung sehr intensiv.
Es kam dann der Moment, da wir so allmählich die Zielgerade des Gesprächs suchten – wir, weil wir wieder die Gesellschaft unserer Familienmitglieder aufsuchen wollten, er, weil noch so viel zu tun war. Von der Landwirtschaft aufs Wetter umzulenken, auf die wunderschöne Landschaft, die prächtige Aussicht und damit den unverbindlichen Abgang zu suchen – das war eigentlich gar nicht so schwer. Dummerweise flocht ich bei dieser Gelegenheit die Dampffahne des nahegelegenen Atomkraftswerks Leibstadt ein, die man nicht sah und eigentlich doch sehen müsste von unserem Standort aus. Der Kommissär und Bauer ging auf diese Bemerkung gar nicht ein und ich hätte es ja auch bleiben lassen können. Aber aus irgendeinem Grund blieb ich dabei und behauptete, das AKW sei wahrscheinlich in Revision und abgestellt.
Nicht der Rede wert
Da war ich aber an den Falschen geraten. Nein, nein, sagte er, die allsommerliche Revision stehe frühestens in einem Monat bevor. Ich beharrte auf meiner Sicht: «Ich bin heute vormittag am AKW vorbeigefahren, und da gab es keine Dampffahne. Man müsste sie doch auch von hier aus sehen.» Darauf – besonders auf letzteres – ging er gar nicht ein, denn was man nicht sehen konnte, obwohl es augenscheinlich hätte da sein müssen, war nicht der Rede wert.
Der Mann wechselte vom landwirtschaftlichen Kommissär umgehend in die Rolle des AKW-Experten. Mit gutem Grund: Sein Sohn, der beim Heuen nicht hatte mithelfen können, weil er Wochenenddienst habe, sei Sicherheitsfachmann für Kernenergie und als solcher in guter Stellung im AKW Leibstadt. Deshalb könne er mir mit Sicherheit sagen, dass das Werk nicht in Revision, sondern in Betrieb sei. So musste mir einleuchten, dass die fehlende Dampffahne, die man von unserem Standort aus hätte sehen müssen, kein Argument für den Stillstand des AKW sein konnte. Vielmehr, so dachte ich, ist es wohl so, dass die Fahne sehr wohl da ist, nur sieht man sie eben nicht, obwohl das Wetter klar und die Aussicht prächtig war. Der Nichte, gelernte Bäuerin, schien das verwirrlich und sie nutzte die Irritation, um zurück auf die Terrasse des Gasthofes zu gehen.
So geriet ich, statt auf die Zielgerade des landwirtschaftlichen Gesprächs einzubiegen, in eine ausführliche Belehrung über die unglaublichen Sicherheitsstandards der europäischen Kernkraftwerke im allgemeinen, der deutschen und vor allem der schweizerischen und dortzulande der Leibstädter im ganz besonderen. Leibstadt, so sagte der Mann, profitiere halt auch vom Knowhow der deutschen Ingenieure und Fachkräfte. Alles in allem hatte ich dem gar nichts entgegenzusetzen, insbesondere keine Dampffahne, die zwar in den Himmel wuchs, aber nicht zu sehen war.
Man sieht sie wirklich nicht
Das Familientreffen verlief im übrigen für alle sehr zufriedenstellend, auch wenn die fehlende Dampffahne zu einem heftig diskutierten Thema wurde. Obwohl sie niemand entdecken konnte. Auf der Heimfahrt anderntags vergewisserte ich mich aus wenigen hundert Metern Entfernung, dass es die Fahne über dem Kühlturm wahrscheinlich schon wehte – dass man sie aber beim besten Willen nicht sehen konnte.
Zwei Tage später berichtete dann die Boulevard-Zeitung über den «Bohr-Deppen». Dieser hatte im AKW Leibstadt die Woche zuvor einen neuen Feuerlöscher montieren müssen und zu diesem Zweck Löcher in die Schutzwand des Reaktors gebohrt. Am Samstag wurde das Malheur entdeckt und das AKW musste notfallmässig abgestellt werden. Das hatte wohl eben auch zur Folge, dass die Dampffahne weder in unmittelbarer Nähe noch vom Dachsberg aus zu sehen war.