Traute Sirenen

Ein Riss geht durch die Mauer des Albigna-Stausees im Bergell. Kein richtiger allerdings. Der Riss ist ein Kunstwerk, das zum Nachdenken anregen soll.

albignaKunst auf der Albigna-Staumauer im Bergell (Foto enjoystmoritz.ch)

Siebenhundertfünfzig Kilogramm schwer und 1300 Quadratmeter gross ist die Plane, die die Alpinistin und Künstlerin Maya Lalive über die Kraftwerkmauer des Albigna-Sees hat legen lassen: Ein Riss geht durch die Betonwand. Er soll das Thema Vergänglichkeit symbolisieren, aber auch Hoffnung. Irgendwie ist die Albigna-Staumauer anregend – im Jahr 1987 hat sie zu folgender Geschichte animiert (erschienen in «Anthologie Schweiz» – unser Land, von Jungen gesehen; Schweizer Spiegel Verlag Zürich):

Traute Sirenen

Allen Wetterprognosen zum Trotz hatte sich der Himmel über Nacht aufgetan, bereits um elf Uhr abends schien der fast volle Mond zwischen Wolken- und Nebelfetzen. Gegen Mitternacht, hiess es in Zeitungsberichten, habe das Tropfen des späten Tauwetters aufgehört, eine unerwartete Kälte, ein Temperatursturz, fror alles ein.

Die Leute im Tal stellten erstaunt, aber froh, fest, als sie die Vorhänge zogen oder die Fensterläden am Morgen öffneten, dass es wolkenloser, blauer Himmel war, die Sonne allerdings kündete sich erst an hinter den Bergen des Stausees. Sie hatten dieses Wetter nicht erwartet, die Aufhellung in der Nacht nicht bemerkt, waren wie gewöhnlichzeitig zu Bett gegangen – Bauern, Bergbauern, Handwerker vom Bau, Maurer, Zimmerleute, Schreiner: alles, was es so braucht für die paar Ferienhäuschen, die jährlich erstellt oder aus unbenutzten Gebäuden umgebaut wurden für ruhebedürftige Städter.

Keine Versammlung hatte die Leute am Abend aufgehalten, alle wichtigen Dinge waren während des langen Winters beredet worden. Zwar hingen Wahlplakate für die neuzuwählende Regierung an Schul- und Gemeindehäusern, in den Läden, an Plakatwände, überall, wo es nicht verboten war. Freundliche Herrengesichter blickten insn Tal, die einen versprachen mehr Freiheit, andere vermehrt soziale und wirtschaftliche Sicherheiten. Sie begnügten sich mit der grossformatigen Präsenz an Anschlagbrettern, auch an Stalltüren, die auf die Talstrasse hinausgingen. Keiner der Herren war gekommen, um sich den Leuten im Tal vorzustellen, denn sie waren nur wenige und gehörten weder einer sprachlichen noch konfessionellen Minderheit an.

Kleine Aufregung

Die Wahlen gaben kaum zu reden. Ein wenig Aufregung in die Dörfer brachte ein junger Lehrer, der nachts Wahlplakate weggerissen oder sie überklebt hatte mit dem Herrn drauf, der soziale und wirtschaftliche Sicherheiten versprach. Leute hatten den Lehrer gesehen. Sie fanden das nicht schicklich und liessen es ihm duch den Schulrat ausrichten. Die kleine Aufregung, die der junge Lehrer verursacht hatte, legte sich aber bald. Der Schulrat liess wissen, dass er ihn angewiesen habe, solche Nachtbubenstreiche zu unterlassen, sie würden nicht geduldet. Andernfalls sei mit Konsequenzen zu rechnen, Konsequenzen, die ernst zu nehmen waren, weil schon wieder einer Schule im Tal mangels Kindern die Schliessung drohte.

Die Versprechen auf den Wahlplakaten sagten den Leuten nichts. Sie fühlten sich frei zwischen ihren Bergen, arbeiteten für diese Freiheit, im Sommer hart, im Herbst zogen sie auf die Jagd und ruhten sich im Winter aus. Die Arbeitsplätze waren ihnen sicher, die paar Buden gehörten ihnen selbst, die stadtmüden Unterländer sorgten jedes Jahr regelmässig für Arbeit, reich – so sagen sie – werde niemand dabei.

Andere Ideen tolerierten sie, das gehört zum Freisein, auch wenn sie den ihren zuwiderliefen. Freimütig durfte der junge Lehrer ihnen vorwerfen, sie würden ihren Lebensraum Stück für Stück den reichen Städtern abtreten, ohne zu überlegen, was das für Folgen habe, ohne zu sehen, dass die Jugend aus dem Tal wegziehe. Er durfte solche Dinge an Wirtshaustischen ungestraft sagen, wenn er nur den Anstand wahrte, den anderen ihre Meinung zugestand, ihre Plakate hängen liess, die Schüler vor solchen Dummheiten verschonte.

Auch die zwanzig im Tal wohnhaften Angestellten des Kraftwerks vom Stausee waren zufrieden, Arbeit und Freizeit waren geregelter als die der Bauern und Handwerker, dafür mussten sie auch im Winter täglich arbeiten gehen. Weder nach sozialer noch nach wirtschaftlicher Sicherheit verlangten sie, Strom aus ihrem Kraftwerk brauchte es immer.

Alles für die Sicherheit

Sicherheit allerdings bedeutete ihnen etwas, dafür waren sie verantwortlich, für die Sicherheit ihrer Einrichtungen, auch für die Sicherheit der Talleute, die unterhalb der Staumauer wohnten.

Alle Jahre einmal liessen sie einen Probealarm durchs Tal gehen – immer wieder ein eindrückliches Erlebnis: Ein Surren zuerst zuoberst im Tal. Erwachende Gewalt, schwillt an im obersten Dorf, setzt im nächstunteren ein nach sieben Sekunden, ein dumpfes Brummen, verborgene Kraft, noch übertönt vom bereits lauteren Warnton im oberen Dorf, übertönt seinerseits nach sieben weiteren Sekunden die anhebende Sirene im nächstunten gelegenen, zuoberst bereits grell, steigt weiterhin an, schlägt in Talhänge, prallt auf zum Himmel, hebt an im nächsten Dorf, bereits gewarnt von den oberen Sirenen, im obersten Dorf in schmerzhafter Schrille, Bergwände werfen den Kanon zurück, vielstimmig, auf- und abwogend die kreischenden Wellen, klingt ab, setzt gleichzeitig irgendwo ein, das Wild in den Wäldern und Büschen der Talhänge werde für Tage gestört, ein wildes Durcheinander im gewohnten Wechsel beobachteten die Wildhüter oft noch nach einer Woche, die Gäste in den vier Hotels werden jeweils am Vorabend über den Probealarm orientiert.

Dieses alljährliche Spektakel entsprach einer gesetzlichen Vorschrift, zum einen, um das Alarmsystem immer wieder zu kontrollieren, andererseits, um die Talbewohner mit dem Schauerton vertraut zu machen.

An den Wirtshaustischen

Am Morgen des Probealarms füllten sich jeweils die Wirtshaustische. Arbeiten war unmöglich in dieser Zeit. Erwartungsvoll sasen die Männer beisammen, schauten durch die Fenster ins Tal hinaus, verglichen die Zeit, neckten sich mit alten Scherzen: ob die Ställe beidseitig offen seien, damit das Unheimliche durchfliessen könne und keine Mauern herausbräche. Während des fünfminütigen Alarms lauschten alle dem vertrauten Ton, der das Beisammensein mitten in der Woche zu einem jährlichen Brauch machte. Einzig die Schulkinder auf den Pausenplätzen versuchten, aus immer grösserer Entfernung sich Dinge zuzurufen.

Nach dem Verhallen der Sirenen kamen die Reden an den Wirtshaustischen in Fluss, knüpften am Alarm an, erörterten in lockerem, neckischen Geplauder die Gefahren, die hinter der Staumauer drohen sollten. Die Männer wussten, was zutun wäre bei einem Mauerbruch, wohin sie sich zu begeben hätten und in welcher Zeit.

Modellversuche hatten gezeigt, dass sich die Zahl der Opfer bei richtiger Reaktion der Talbewohner in ordentlichem Rahmen halten wird, besonders die Bewohner der unteren Dörfer würden sich retten können, mit Ausnahme solcher vielleicht, die nicht mehr gut zu Fuss waren.

Vertrauter Anblick

Es waren alle vertraut mit dem Anblick der Staumauer, der Stollenrohre, mit dem Alarmsystem, wussten genau, was zu tun sei, auch die Frauen zu Hause. Sie hatten es ihren Kindern weitergesagt, diese bereits schon den ihren. So lange stand die Mauer schon. Man erzählte sich auch vom kühlen Wasserfall, der sich dort herabgestürzt hatte, wo sich das Wasser hinter der Mauer staut. Im Theaterstück, das alle fünf Jahre aufgeführt wird, besingt ein Hirte das stiebende Wasser.

Nun – an jenem strahlendblauen Märztag, von dem am Anfang die Rede war, als sie Angestellten des Stauwerks ihrer täglichen Arbeit nachgingen, die Bauern die schneefreien Wiesen säuberten, Handwerker Maschinen und Material für den Sommer rüsteten, die Lehrer ihre Schüler auf die Schlussexamen vorbereiteten, in jenem März, als die freundlichen Herren unbeirrt von den Plakatwänden herablächelten, Sicherheiten und Freiheit verkündeten, um die sich Bauern und Handwerker foutierten, brach die Mauer.

Die Untersuchungen über das Unglück sind noch heute nicht abgeschlossen. Sie werden, Expertenberichten zufolge, nie endgültigen Aufschluss geben können in dem Sinn, dass andere ähnliche Katastrophen verhindert werden könnten, da Zufälle zusammengespielt haben, die ausserhalb aller Wahrscheinlichkeit liegen. Entscheidend war auf jeden fall die vorangegangene nächtliche Kälte im Zusammenhang mit den natürlichen, altersbedingten Rissen in der Mauer, die im Sommer im Zuge einer routinemässigen Revision hätten ausgebessert werden müssen.

Einigermassen im Rahmen

Hundertdreiundzwanig Menschen kamen um, womit sich die Katastrophe einigermassen im Rahmen hielt. Die Mauer war nämlich nicht, wie die Modellversuche anzeigten, plötzlich und sofort in der ganzen Breite auseinandergebrochen. Das Wasser drängte sich durch einen erst schmalen Riss, den es allerdings plötzlich wuchtig ausweitete, zum Zeitpunkt etwa, als der Alarm in der Zentrale ausgelöst wurde.

Erstaunt horchten die Leute auf, als im obersten Dorf die Sirene losging, sieben Sekunden später im nächstunteren. Der Alarm war nicht angekündigt gewesen. Alle Leute hielten in ihrer Arbeit inne, die Lehrer unterbrachen die Gesänge ihrer Kinder, denn der Unterricht hatte im Tal eben erst begonnen, scherzhafte Sprüche in den Schulzimmern wie auf den Strassen und den Wiesen, dass man fast glauben müsse, die Staumauer sei gebrochen. Die Ängstlicheren warfen zwar einen zaghaften Blick zum Talfluss, der aber noch völlig ruhig floss. Bald war eine Unterhaltung nicht mehr möglich, die Sirenen schlugen jedes Wort zurück, die eigene Stimme war nicht mehr zu hören, auch nicht das Krachen der polternden Felsblöcke im Tal oben, das sich ähnlich angehört hätte wie niedergehende Lawinen.

Die talabstürzenden Wassermassen richteten eine bescheidene Zerstörung an im Vergleich zur Druckwelle, die ihnen vorausging und die sie begleitete. Die meisten Opfer starben in den zusammenstürzenden Steinhäusern, wurden erschlagen oder erdrückt. Vieh und Menschen, die sich im Freien aufhielten, wurden wohl zu Boden geworfen, kamen aber mit Prellungen und einem gehörigen Schock davon. (urs Buess)

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