Generalversammlung

Gestunken hat er nicht, aber zu hören war er. Einem der sechs anwesenden, im ersten Stock der «Villa Allesgeht» sitzenden Männer war Luft entwichen. Ich war es nicht, ich schwöre es. Der Furz kam im dümmsten Moment, es war mucksmäuschenstill, denn alle lauschten, was Hannes Meister, der CEO der «Wildwest-Wolke», draussen vor der Tür ins Handy sprach.

Es war schon deutlich nach halb vier an diesem 18. Juni 2013, als der Furz entwich, als sein Schall noch irgendwie nachhallte, nicht weil er Gestank oder gar Rauch hinterlassen hätte, aber weil er die Spannung doch zusätzlich aufgeladen hatte. Man hätte gern gelacht. Aber das ging nun mal nicht. Verwaltungsratspräsident Stefan Hescher hatte die Traktanden zügig durch die Sitzung getrieben, geduldig die ausschweifenden und gedrechselten Ausführungen des neuen Redaktionsleiters der Wildwest-Wolke, Andi Nacht, ertragen. Nur bei den ausufernden Beiträgen des neuen stellvertretenden Leiters, Rico Wind, der in jedem seiner Voten einen Sachverhalt locker bis zu fünf Mal wiederholen konnte und sei es nur die banale Feststellung, dass er jeden Tag über zwölf Stunden arbeite, fiel der Verwaltungsratspräsident dem Redner manchmal ins Wort und hielt ihn zur Kürze an.

Um halb vier nämlich wollte Hescher die Verwaltungsratssitzung zu Ende geführt haben, denn auf diesen Zeitpunkt war die Generalversammlung angesagt. Die Aktionärin der Wildwest-Wolke sollte die Rechnung des ersten ordentlichen Geschäfts-Kalenderjahres 2012 sowie den Bericht über den Geschäftsgang absegnen und den drei Verwaltungsräten Hescher, Meister und Arno Fliesser die Decharge erteilen. Die alleinige Aktionärin der Wildwest-Wolke AG ist die Stiftung für Lauterkeit, und diese besteht aus Präsident Anton Schweiger, dem Architekten Johann Belomont, dem Schriftsteller und Gemüseproduzenten Sebastian Rost und der in Paris lebenden Sängerin Klara Kehl.

Nun war aber halb vier längst vorbei und es war etwas ärgerlich, dass keines der vier Mitglieder des Stiftungsrats sich eingefunden hatte. Es war natürlich allen klar, dass eine Klara Kehl nicht aus Paris hierher reisen würde, um an einer Generalversammlung teilzunehmen. Und dass ein vielbeschäftigter Mann wie Anton Schweiger sich für einen solchen Anlass nicht ins Stadtzentrum und daselbst in die «Villa Allesgeht» begeben mochte, leuchtete auch ein. Dasselbe galt im Grunde genommen für Architekt Belmont. Deshalb hätte zumindest Sebastian Rost, der ein paar Monate zuvor zum Delegierten des Stiftungsrats ernannt worden war, vor der Tür stehen sollen. Doch dort stand er nicht.

Verschiedentlich hatte ihn Hannes Meister am Handy zu erreichen versucht. Ohne Erfolg. Doch eben als die Warterei ungemütlich zu werden drohte, kam Meister durch und rief fröhlich in sein Smartphone: «Hey, Sebas, wir warten auf Dich. Wo bist Du?» Die Antwort riss ihn vom Stuhl, er eilte zur Türe und entschwand im Gang. So sehr die sechs Zurückgebliebenen lauschten, sie verstanden kein Wort. Dem einen oder anderen lag vielleicht ein ironischer oder hämischer Scherz über die Zuverlässigkeit der Stiftungsräte auf den Lippen, aber die Lage war zu ernst, um sich sprücheklopfend als einfaches Gemüt zu offenbaren. Die Generalversammlung stand auf dem Spiel. Und genau in diesem Moment geschah einem der Lauschenden dieses pupsende Malheur.

Meister hatte fertig telefoniert. «Sebas ist auf seiner Gemüsefarm im Seeland», richtete er aus. Das war nun etwas überraschend. Jetzt durfte man doch ein bisschen lachen. Über den Stiftungsrat, über interne Kommunikation, auch ein bisschen über den Furz, der vielleicht gar keiner gewesen war, wie später einer sagte. Vielleicht habe auch einer neue und noch etwas spröde Schuhe getragen, deren Leder bei einer ungeschickten Bewegung seltsame Töne von sich gegeben habe.

Jedenfalls: Die Generalversammlung zum ersten ordentlichen Geschäftsjahr der Wildwest-Wolke hat nicht stattgefunden, wie sie hätte stattfinden müssen. Verwaltungsratspräsident Hescher tönte an, die Sache werde auf dem Korrespondenzweg irgendwie erledigt, was wahrscheinlich irgendwann auch geschehen ist. Wieso die Versammlung nicht stattgefunden hat und die Aktionärin die Decharge nicht auf üblichem Weg hat erteilt werden können, klärte sich nie so ganz auf. Sebastian Rost habe die Mail mit der Aufforderung ganz bestimmt erhalten, sagten die einen. Bestritten hat das niemand ernsthaft. Die Mail sei unklar formuliert gewesen, wurde herumgeboten. Vielleicht habe sie Rost auch nicht zu Ende gelesen, flachste einer – was weniger über Rosts Engagement aussagt als über seinen Status als Sonderling in den ehrenwerten Gremien. Er gehört einfach nicht so ganz in den Dunstkreis des Wildwest-Wolke-Geistes. Wie viele andere übrigens auch nicht.

Die Beschlüsse der auf dem Korrespondenzweg abgehaltenen Generalversammlung, die auf den 18. Juni 2013 anberaumt worden war, lagern gut versorgt in irgendeinem Ordner. Die Alleinaktionärin hat dem Verwaltungsrat die Decharge auf unkonventionelle Weise erteilt. Ein gemeinsames Nachtessen, wie das ein Jahr zuvor vereinbart worden war, als die Generalversammlung zum ersten Geschäftsjahr zusammengetreten war, hat nicht stattgefunden.

Damals übrigens auch nicht.

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