Spur durch Deutschland, Weimar – Apolda, 28. Juli 2020. Eine letzte Rast auf der Bank vor Goethes Gartenhaus, ein letztes Gespräch daselbst und dann geht’s hinaus in die offene Landschaft, wo jeder Schritt Staub aufwirbelt. Die Menschen hier sind eher wortkarg, die Zwetschgen schon süss und in Apolda zerfallen viele Häuser.
Es fällt mir nicht ganz leicht, Weimar zu verlassen. Die Stadt hat etwas Leichtes trotz des schweren Erbes – im Guten wie im Schlechten –, das sie trägt. Vielleicht sind es die vielen italienischen Cafés mit italienischem Personal, das diesen Eindruck verstärkt, vielleicht das Grün und die Pärke überall. Durch den einen, jenen an der Ilm, verlasse ich Weimar. Ich bin schon leichteren Fusses davongezogen, und ich setze mich, kaum habe ich das Flüsschen überschritten, auf eine Bank, vor mir Goethes Gartenhaus. Dort träume ich vor mich hin, schaue einem Schauspieler zu, der vor dem Gehweg zu diesem Gartenhaus einen sehr altmodischen Kinderwagen vor sich herstösst und eine Rolle auswendig lernt. Ich finde das alles ein bisschen dick aufgetragen, aber vielleicht gerade deshalb fasziniert es mich, und so bleibe ich bis gegen elf Uhr sitzen. Einer Passantin fällt das auf, sie spricht mich darauf an und setzt sich ans andere Ende der Bank.
Sie dürfte Mitte vierzig sein, hat ihr Haar zu einem kleinen Dutt hochgebunden und blickt sanft lächelnd zum Goethehaus hinüber. Ich bin überzeugt, dass sie Sophie heissen muss mit einem langen «-ie», aber ich wage nicht zu fragen. Dann fragt sie mich, ob mir aufgefallen sei, dass Kellner und Kellnerinnen in Weimar keine Masken trügen, und ich versuche mich zu erinnern. Kann schon sein, doch! An einem Ort wie diesem müsse man das Virus nicht fürchten, sagt sie, man sei daran zu lernen, mit ihm zu leben. Schon wieder! denke ich – aber die Bank gebe ich nicht frei. Sie steht dann auf und schwebt von dannen. Immerhin, denke ich.
Aber ich muss dann auch los, verlasse den Park auf der Ostseite, spaziere durch Einfamilienhausquartiere und verlasse die Weimar an der Gottfried-Keller-Strasse. Der hat’s also auch geschafft. Das Wandern ist mir schon leichter gefallen, aber immerhin sind die Wege gut. Kein Asphalt, kein Verkehr, nur Wiesen, Äcker, Feldwege und zwar soweit das Auge reicht. Es reicht ein bisschen gar weit, der Wind bläst heftig, zeitweise muss ich die Mütze in der Hand tragen, damit es sie nicht fortweht. Die Wolken schieben sich schwerfällig über mich hin, als würden sie schwere Lasten transportieren. Der Weg führt mich über eine riesige Gewerbefläche, auf der OBI, Möbel-Outlets und dergleichen alles anbieten, was ein ordentliches Herz begehren mag: «Real – einmal hin, alles drin». Nur zieht es hier kaum jemanden hin. Die Parkplätze sind leer.
In Süssenborn und später in Umpferstedt – zwei Dörfer, durch die ich wandere – fällt mir auf, was ich schon verschiedentlich bemerkt habe, seit ich in Thüringen angekommen bin. Es stehen zwar Gedenksteine für die Verstorbenen und Verschollenen der Kriege auf dem Dorfplatz, aber nur für den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und den Ersten Weltkrieg. Der Zweite Weltkrieg findet nicht statt. In Umpferstedt möchte ich von einem Mann so um die 60 wissen, warum das so ist. Aber er mag nicht darüber reden. «Die Dörfer hier sind doch alle tot», sagt er. Ich schnalle den Rucksack an und ziehe weiter.
Überhaupt fällt mir auf, dass die Leute hier nicht sehr gesprächig sind. Sie wundern sich zwar über den Wanderer, der da durchgeht und schauen hinter dem Zaun hervor, aber wenn ich sie zum Beispiel nach dem Weg frage, sind ihre Antworten sehr einsilbig, kaum ganze Sätze. Aber Hunde hat es viel. Fast aus jedem Garten bellt einer, und es sind im Fall nicht nur kläffende Köter. Da lärmen Kerle, deren Lefzen recht gefährlich am Unterkiefer baumeln. Mir graut, wenn ich durch diese Dörfer gehe, fast ein bisschen vor offenen Gartentoren.
Die Luft ist feucht, der Tag schwül, Staubfahnen wehen über Felder, und am Horizont zieht ein Panzer vorbei. Ein bisschen erschreckt mich das, aber es erweist sich dann als Trugbild. Nein, es ist kein Panzer – ein Mähdrescher fährt in der Ferne vorbei mit einem Rohr wie eine Panzerkanone. Ein Traktor mit Anhänger, in den der Drescher das Getreide spuckt, fährt neben ihm her, doch den sehe ich erst später. Einmal nehme ich eine Abkürzung über ein geerntetes Feld, eine lange Strecke wandere ich über Stoppeln und denke, dass da vor mir wohl schon lange kein Mensch mehr gegangen ist. Diese Äcker begeht der moderne Mensch und Landwirt nur auf Rädern und zwar auf mächtigen. Von weitem sehen die geernteten Felder aus, als habe sich ein abstrakter Maler ausgetobt.
Meist wandere ich aber auf Feldwegen, die arg zerfurcht sind von den schweren Maschinen, die sie benutzen. Obwohl es in den letzten Tagen hin und wieder geregnet hat, wirbelt jeder Schritt Staub auf, die Gräser sind dürr, ein bisschen apokalyptisch wirkt das alles. Am Wegrand stehen Zwetschgenbäume. Die Früchte sind schon reif. Linkerhand erhebt sich eine klobige Fabrik: Ospelt, eine Liechtensteiner Firma, produziert hier Fertigpizzen und Tierfutter. Zwischendurch queren Betonpisten meinen Weg. Relikte aus der DDR-Zeit.
In Apolda mache ich Halt, schaue das Städtchen an, will hier übernachten, denn der Tag geht zu Ende. Der Aufbruchsgeist nach der Wende hat noch nicht alle Quartiere erfasst. Noch gar nicht alle. Häuser mit blinden Fenstern säumen die Einfallstrassen, der Putz bröckelt und dort, wo noch Leute wohnen, ist in den letzten vierzig Jahren kaum renoviert worden. In den Aussenquartieren dagegen stehen schmucke Einfamilienhäuser, teils mit Gartenzwergen, und in der Innenstadt tut sich auch was. Ganze Häuserzeilen stehen frisch verputzt im Abend, einige Neubauten haben sich dazwischen eingenistet. Der Platz vor dem Rathaus wirkt herausgeputzt, doch Menschen sehe ich kaum. Da und dort sitzen einige in einem Café, zu zweit, zu dritt. Eine mächtige Glocke steht neben dem Rathaus. Apolda hat eine grosse Glockengiessertradition. In alle Welt wurden von hier aus Glocken geschickt und eine besonders riesige hängt im Kölner Dom.
Und für noch zwei weiteren Spezialitäten steht Apolda, habe ich gelesen. Hier wurden während der DDR-Zeit Trikotagen fabriziert, Strickwaren also für Unterwäsche, Strümpfe und dergleichen, welche viele Damen liebend gern gegen eine Nylon-Strumpfhose aus dem Westen getauscht hätten. (Die Stricktradition reicht allerdings viel weiter zurück, wie unten im Kommentar von Uli Stadler zu lesen ist.) Und dann das: der Dobermann kommt von hier. In Apolda wurde er gezüchtet.
Im Städtchen kann man Pizza essen oder Döner. Oder auch Pizza. Oder Döner. Auch asiatisch – da stehen etwa achtundvierzig Menus am Aushängebrett. Man könnte aber auch Pizza essen. Ich entscheide mich für ein Restaurant, in dem es die Thüringer Bratwurst gibt. Dazu Bratkartoffeln und sonst nichts. Salat gibt es keinen: Nee, haben wir nicht. Die Wurst ist gut, schmeckt nach Kümmel. Die Kartoffeln sind zwar nicht ganz gar, dafür auch nicht angebraten. Und das Bier ist auch gut.
Ich frage die Wirtin, wieso ihre Lokalität «Zei Länder» heisse. Sie sagt, sie wisse es nicht. Ihr Mann und sie hätten sich das auchschon gefragt. Der Vorgänger habe das so genannt. Aber der ist gestorben.