Grau verflüchtigt sich in grau

Spur durch Deutschland, Laufenburg – Koblenz, 14. Juni 2020. Eine tote Taube im Dachkännel kann hohe Kosten verursachen. Was hat ein trüber Sonntag, der mit solchen Geschichten beginnt, sonst noch zu bieten? Um ehrlich zu sein: Nicht viel mehr als einen Kühlturm, dessen Dampffahne sich im Grau der Wolken verflüchtigt.

Da wohnt niemand mehr: Bauernhaus vor Leibstadt

Frau Dietz hat in der Stube für zwei Personen gedeckt und ein reichhaltiges Frühstück bereit gestellt. Germi sitzt schon da und isst. Er ist ein pensionierter Bauführer aus Zermatt, nimmt sich von den Herrlichkeiten auf dem Tisch nur wenig in den Teller, weshalb er wahrscheinlich von eher hagerer Gestalt ist. Er will mit dem Velo rheinabwärts bis Holland fahren, dann hinüber zur Weser und wieder zurück ins Wallis. Er findet es gut, dass ich rheinaufwärts gehe. Die Radstrecke von Basel nach Köln kenne ich und gebe ihm ein paar Tipps. Frau Dietz rührt im Kaffee und fragt, warum er nicht auf der deutschen Seite nach Basel fahre, das sei die schönere Strecke. Germi traut sich nicht. Wegen Corona.

Das wischt Frau Dietz beiseite. Die Brücke da unten am Rhein hinüber ins deutsche Laufenburg sei längst wieder offen. Da könne man hin und her, wie man wolle. Am Anfang, ja, da war ein Gitter über die Brücke und die Zöllner haben sich im Zollhäuschen versteckt und den Leuten abgepasst – aber jetzt! Man müsse ja rüber, wenn man was essen wolle in einer Beiz. Auf der Schweizer Seite gebe es gar keine Restaurants mehr, wo man essen könne. Auch keine Läden. Als sie jung war, gab es fünf Bäckereien im schweizerischen Laufenburg und alle haben gelebt. Heute keine mehr. Frau Dietz ist etwas über siebzig.

Laufenburg, ein Städtchen ohne Bäckerei

Als sie jung war, gab es auch dreizehn Beizen, jetzt noch drei und eine Pizzeria. Und die Bevölkerung war nicht mal halb so gross. Das ist halt so, wenn alle immer drüben essen und einkaufen gehen. Hier in Laufenburg gibt es nur noch einen Coop und eine Apotheke. Alle kaufen drüben. So ist der Mensch. Er geht, wo es billig ist, und weiss nicht mehr, von wo er ist und wovon er lebt. Frau Dietz geht nicht ins Deutsche zum Einkaufen. Ganz selten. Nur für Weichspüler und Nivea.

Aber man muss sich auch nicht wundern. Hier ist alles viel teurer. Sie hat einen Handwerker kommen lassen, weil eine tote Taube im Dachkännel lag. Zu dritt sind sie gekommen mit einem hydraulischen Lift. Und als sie fragte, warum der eine das Dachrohr aufgesägt habe, hat der geantwortet, er habe geschaut, ob im Rohr eine weitere tote Taube stecke.

Dem hat Frau Dietz aber ein Lied gesungen. Sie weiss wohl am besten, ob eine tote Taube im Rohr steckt oder nicht. Als die Rechnung kam, hat sie noch lauter gesungen. Tausendsiebenhundert Franken für eine tote Taube.

Schafe weiden beim römischen Wachtturm

Auf dem Weg von Laufenburg nach Rheinsulz nieselt es leicht. Links Wasser, rechts nasse Büsche. Beim römischen Wachtturm in Rheinsulz weiden Schafe, und ein Schild macht darauf aufmerksam, dass 1856 das Flösser-Rekordjahr war. Über 4000 Flosse sind den Rhein hinunter geschwommen und über 60’000 Stämme. Das möchte man sich gern mal vorstellen. Der Flösserweg geht dann hinauf in den Wald, wohl um zu zeigen, woher die Stämme kamen.

Lau weht die Schweizerfahne

Auf dem Weg zum Wald haben sich stilsichere Bauherren wie in Wallbach kleine Villen mit bronzenen Skulpturen gebaut, wassersprühend einige. In Schwaderloch geht’s biederer zur Sache,

Nimm Dir Zeit …

die Rasen akkurat gemäht, Sinnsprüche in den Vorgärten, Zwerge und viele Schweizerfahnen.

Der Kühlturm von Leibstadt drängt sich in den Blick. Er ist so nah, seine Fahne, die man bei schönem Wetter weitherum sieht, quält sich hoch, an der Wolkendecke ist Schluss, die beiden Grau gehen ineinander über. Ein Bauernhaus am Wegesrand steht tot und leer, die Läden geschlossen, die Türen zugenagelt. Ein Laden ist aufgebrochen worden, das Fenster eingeschlagen. Ein Kühlschrank, ein Holzherd und ein elektrischer stehen in einer leeren Küche. Sieht aus, als ob hier vorsorglich evakuiert worden wäre.

Bevor man vor dem Kühlturm steht, lenkt ein Naturschutzidyll vom Technomonster im Hintergrund ab. Dann wird es ernst – Nato-Stacheldrahtzaun umgibt das Gelände, doch die Leute, die an diesem trüben Sonntagnachmittag auf dem Weg von Full her zum Kühlturm spazieren, irritiert das alles nicht. Sie leben damit seit Jahren.

Dampffahne in den Wolken

Rentnerpaare, Jungfamilien mit Kinderwagen, mit und ohne Hund, Jogger, bummelnde und rasende Radler, Paare ohne Kinderwagen aber mit Hund – sie alle gehen hier ihres Weges. «Schatz, spazieren wir ein bisschen zum AKW?» haben sie vielleicht nach dem Mittagessen gesagt. Oder vielleicht haben sie «KKW» gesagt, nicht «AKW». KKW tönt einfach ein bisschen … naja … KKW ist nicht so AKW.

Koblenz liegt noch sehr in der Corona. Die Tankstellen-Shops öffnen erst am 15. wieder. Im Engel bin ich der einzige Gast und die Wirtin sagt, wenn Corona vorbei sei, werde es um diese Zeit noch leerer sein, weil alle wieder nach drüben gehen. Die sich anbahnende Schwermut verfliegt dann in Ritas B&B. Das Haus ist zwar ausgebucht, aber sie legt mir im Craniosacral-Therapieraum von Daniel, ihrem Mann, eine Matratze auf den Boden. Dann serviert sie mir eine Kreation von Daniel: einen Felsenbirnen-Kuchen. Dazu einen Tee und Likör. Die beiden waren drei Monate auf dem Jakobsweg und sie wissen wie es ist, wenn man ankommt.

Ein Gedanke zu „Grau verflüchtigt sich in grau

  1. Hallo Urs. Seit Tagen verfolge ich dich auf deinem Marsch! Es tönt sehr interessant und bildhaft. Ich kann mir alles sehr gut vorstellen! Ich wünsche dir etwas mehr Sonnenschein, aber trotzdem nicht allzu warm. Weiterhin gut wandern. Ich werde dich weiter verfolgen. LG. Ly

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