Im Doppelroman «Die Unvergleichlichen» leuchtet der Zürcher Schriftsteller Daniel Suter, der am Silvester verstorben ist, zwei unterschiedliche Milieus in zwei verschiedenen Städten aus. Am 12. Januar findet die Abdankung statt. Zum Gedenken an Daniel Suter die folgende Buchrenzension, eigentlich für die bz Basel geschrieben, wo sie aber nie erschienen ist.
Die Unvergleichlichen, ein Parallelroman
Der Roman beginnt mit dem Ende und endet mit dem Anfang. Tönt ein bisschen nach affektierter Konstruktion – ist es aber nicht, es hat alles seine Logik. Im ersten Kapitel, dem «Ende», werden Paula Ahrons und Jenny Frygermut zu Grabe getragen, erstere nachdem sich der Tod vom Fuss her in den Körper geschlichen hat, und zweitere sorgt noch nach der Abdankung für verhaltene Furore, denn ihr Sarg will partout nicht waagrecht in die Grube schweben.
Paula Ahrons und Jenny Frygermut haben eigentlich nichts gemeinsam. Was sie allenfalls verbindet, ist die Zeit, in der sie heranwuchsen – 1889 kam Paula zur Welt, 1892 Jenny. Gewiss, sie erlebten beide das Ende der Belle Époque, zwei Weltkriege und die Zwischenkriegszeit – aber wie anders erlebten sie sie. Die eine als eingewanderte Berlinerin jüdischer Abstammung im Arbeitermilieu Zürichs, die andere als wohlbehütete, standesgemäss erzogene Tochter des gehobenen Basler Bürgertums. Ihre Wege kreuzten sich nicht, die Gegensätze trafen nicht aufeinander.
Ihr Tod ist der Anfang, denn zurück bleibt ihr Nachlass, der David zufällt, dem Autor des Romans. Er, der Enkel der beiden, liest die Briefe der Verstorbenen, liest ihre persönlichen Aufzeichnungen, liest die journalistischen Artikel Paulas, durchstreift die Gassen der Basler Innenstadt, wo Jenny wohnte, stellt die Strassen Zürichs, die Paulas Heimat waren, wieder ins Licht des angehenden 20. Jahrhunderts, und er durchstöbert die Archive der beiden Städte. David ist der Zürcher Journalist und Jurist Daniel Suter, der bis 2009 beim Tages-Anzeiger geschrieben, bereits zwei Romane veröffentlicht hat und der am Silvester 2016 verstorben ist.
Wirklichkeit in Episoden
Der Nachlass der Grossmütter ist für den Enkel mehr als eine Fundgrube, die das Leben zweier aussergewöhnlicher Frauen dokumentiert. Die hinterlassenen Zeugnisse motivieren ihn, die Familiengeschichten zu recherchieren, zu dokumentieren, das familiäre, ökonomische und gesellschaftliche Umfeld seiner beiden Familienzweige zu ergründen, sie in das politische und wirtschaftliche Umfeld der ersten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts einzubetten. Die Leben von Paula und Jenny werden zum Roman – zu zwei verschiedenen Romanen, da die beiden in so unterschiedlichen Realitäten zuhause waren. Oder eben: zum Doppelroman, in dem die beiden Frauen, ihre unvergleichlichen Welten, die zwei Städte, die verschiedenen sozialen, gesellschaftlichen Wirklichkeiten in Episoden auftauchen, verschwinden, wieder erscheinen, sich ablösen.
Zum Beispiel so: Mit ihren Eltern und dem Bruder verlässt die zehnjährige Paula 1899 Berlin, durchquert Deutschland, fährt in der Fähre über den Bodensee und trifft in Zürich ein, wo der Vater sich eine blühende Zukunft im Werbemarkt erhofft und seine Familie schon mal in eine repräsentative Wohnung einmietet, inklusive Hausangestellte. – Schnitt. – Die siebenjährige Jenny und ihre Geschwister haben heimlich eine Droschke gemietet und lassen sich darin von der Engelgasse in Basel, wo die elterliche Villa steht, ins Atelier eines Fotografen kutschieren, um Frau Mama und Herrn Papa am bevorstehenden Hochzeitstag mit einer Fotografie zu überraschen. Das Dienstpersonal muss übertölpelt werden, damit die kleine Flucht aus der Villa gelingt. – Schnitt. – Frau Gruber, die Hausangestellte in Paula Ahrons Familie in Zürich, bringt zu Weihnachten ein Kind zur Welt. Wer ist der Erzeuger? Man redet nicht darüber. Papa Ahrons scheint merkwürdig besorgt zu sein um das Wohl der alleinstehenden Frau, die weiterhin im Haushalt bleiben kann. – Schnitt. – Bevor Jenny nach ihrem Welschlandaufenthalt sich in der Pension von Mrs. Carpenter ein gepflegtes Englisch und britische Manieren aneignen wird, erlebt sie als Tochter eines Basler Bankiers auf einem Tribünenplatz die Abdankungsfeier für König Edward VII. und sieht gekrönte Häupter aus der ganzen Welt vorbeidefilieren.
Eine Jugend voller Pläne
Etwas haben sie gemeinsam, die beiden Frauen, die sich eigentlich nicht vergleichen lassen: Ihre Jugend ist voller Pläne. Paula, deren Vater sich als angehender Werbefachmann etwas grossspurig in Zürich niedergelassen hat, will lernen, will studieren und zwar Politik und Ökonomie, was für eine Frau in dieser Zeit sehr aussergewöhnlich ist. Jennys Träume sind konventioneller. Sie, die im Basler Daig aufgewachsen ist, und eigentlich nie daran zweifelt, ihr Leben ausschliesslich in der gehobenen Gesellschaft zu verbringen, sehnt sich nach dem Glamour der grossen Städte London, Paris … Für sie ist es selbstverständlich, den in Basel gastierenden Stardirigenten und Pianisten Feruccio Busoni in privater Audienz geniessen zu können und schnöde lehnt sie einen Liebesantrag eines seiner Meisterschüler ab. Sie respektiert die Konvenienzen und ehelicht standesgemäss einen Seidenbandfabrikanten aus alteingesessenem Geschlecht, auch wenn sich in seinem Charakter die Dekadenz des übersättigten Grossbürgertums abzeichnet.
Dann haben Paula und Jenny noch etwas gemeinsam: Ihre Pläne scheitern, die Träume platzen. Der Erste Weltkrieg und die Wirtschaftskrise treffen sowohl das Kleinbürgertum in Zürich als auch den Daig in Basel. Die Geschäftsideen von Paulas Vater lösen sich im Nichts auf, sie unterbricht das Studium, um als Sekretärin in einem Warenhaus den Unterhalt ihrer Familie zu bestreiten, man zieht in immer kleinere Wohnungen, sie bricht das Studium ganz ab, schliesst sich der Frauenbewegung, dann der kommunistischen Partei an, bewegt sich im Arbeitermilieu und schreibt als Journalistin für den linken «Vorwärts». In Basel bleiben die Bandfabrikanten auf ihrer Seide sitzen, die Nachfrage nach Luxusgütern in den Städten der Welt geht dramatisch zurück, Jennys Gatte verfällt dem Alkohol und anderen unstandesgemässen Sachen.
Bescheidene Paula, stolze Jenny
Die Realität ist meist kreativer, als es die Fantasie sein kann. Dies trifft auf auch Daniel Suters Doppelroman zu. Wie die beiden Frauen sich im Leben behaupten, Schicksalsschläge einstecken, sich immer wieder aufrappeln, auch schöne Seiten des Lebens erfahren – das hat sich niemand ausgedacht, sondern das diktierten die Dokumente, die dem Enkel zufielen. Er musste die Charaktere rekonstruieren, nicht erfinden. Hier die bescheidene Paula, die sich hingebungsvoll in den Dienst der Arbeiterbewegung stellt und der es zum Beispiel nie in den Sinne käme, den Prunk und die Arroganz zu hinterfragen, mit der sich 1929 der russische Kultregisseur Sergei Eisenstein («Panzerkreuzer Potemkin») durch Zürich bewegt. Dort die stolze Jenny, die dem gesellschaftlichen Abstieg zu trotzen versucht, als erste Frau in Basel den Führerschein erwirbt und im reifen Alter für einen Münchner Fotografen Modell steht.
Die beiden Biographien sind dann doch zur Fiktion geworden, denn die Figuren führen Dialoge, zeigen Gefühle – der Schriftsteller inszeniert Begegnungen, malt Häuserzeilen, Landschaften, erzählt Episoden, konstruiert den Doppelroman. Er nimmt nicht Partei, erzählt in schlichter Sprache, schreibt auch immer wieder augenzwinkernd. Mit zunehmender Dauer verliert der Roman den unbeschwerten Erzählton, die Turbulenzen im Leben der beiden Frauen erhöhen die Spannung, verschärfen die Dramatik.
Und immer bleibt der Autor dem Blickwinkel seiner beiden Grossmütter verpflichtet. Zürich ist das Zürich der Arbeiter, der Arbeiterbewegung, der Immigranten aus Russland, der Proletarier, das Zürich des Sozialisten Fritz Brupbacher, der kommunistischen Vorkämpferin Rosa Bloch. Abteilungsleiter, Professoren, Gutbetuchte, Leute aus der gehobeneren Gesellschaft tauchen nur auf, soweit sie Paulas Leben tangieren. Zürich erscheint aus der Sicht von unten. Basel dagegen fast ausschliesslich aus jener von oben. Das Leben spielt sich in der inneren Altstadt ab, man bewegt sich im Daig, geniesst die hohe Kunst, vertraut Privatärzten. Dem kommunen Volk, den Arbeitern, Angestellten bleiben die Statistenrollen. Nicht nur Paula und Jenny sind unvergleichlich, auch die beiden Gesellschaften, in denen sie sich bewegen, sind es.
Die Begegnung
Im Oktober 1943 kam es dann doch zu einer Begegnung: Jenny, die Baslerin, lud Paula in die Zürcher Kronenhalle zum Nachtessen ein. Das Treffen hatte Kathrin eingefädelt, eine Tochter von Jenny. Sie war ein Stück weit aus ihrer grossbürgerlichen Familientradition ausgebrochen, hatte Fotografin gelernt: Sie war mit dem schriftstellernden und journalistisch tätigen Bohémien Jan befreundet – Jan, einem der beiden Söhne Paulas. Vier Jahre nach dem Nachtessen in der Kronenhalle kam David zur Welt, der Sohn von Kathrin und Jan, der Enkel von Paula und Jenny, der ein paar Jahrzehnte später begann, den schriftlichen Nachlass seiner Grossmütter zu einem historischen Doppelroman zu verarbeiten.
Daniel Suter: Die Unvergleichlichen. Doppelroman. Edition 8. 750 Seiten, 39 Franken