Lichter von Sizilien, 18. August 2002

Hinter dem Flughafen von Lamezia ändert sich die Landschaft, vor allem die Vegetation. Auch die Kadaver auf der Strasse verschwinden, dafür häufen sich die Gedenksteine. Und in Palmi sieht man die Lichter Siziliens leuchten.

Noch fünfzig Kilometer bis Reggio di Calabria. Bin heute wieder über hundert Kilometer geradelt – und was soll ich darüber erzählen? Das Hotel Mondial in Marina di Nocera Ternese an dieser hundert oder mehr Kilometer langen Endlos-Küste habe ich gern verlassen, es war bei weitem nicht das schrecklichste, das ich angetroffen habe, wenn auch in seiner Trostlosigkeit deprimierend und beelendend.

Es steht da für all die, die ja eigentlich genau so ein Recht hätten, ein paar schöne Tage im Jahr zu verbringen wie all die Reichen und Wohlhabenden, die sich Wochen davon leisten. Aber in Wirklichkeit steht es nur da, um jenen, die sich all das, wovon sie träumen und nicht leisten können, das bisschen Ersparte aus dem Sack zu ziehen, das sie sich übers Jahr so auf die Seite legen können. Und sie tun dann in den paar Tagen, da sie dieses Ersparte ausgeben, so furchtbar wichtig und aufgeblasen, und der Wirt im Mondial tut es auch. Alles ein riesiger Betrug.
Zerknüllter Traum am Strassenrand
Hab also unter den strengen Augen einer siebzigjährigen Dame meinen gestern schon wieder zusammengekrachten Gepäckträger mit solider Schweizer Schnur recht ordentlich wieder hergestellt und bin an den Autoschlangen entlang oder ihnen entgegen gefahren, je nachdem, ob grad ein Strand vor oder hinter mir war, hab diese öde Küste zur Kenntnis genommen, rechterhand, und linkerhand immer wieder in die Hügel und Berge geschaut, ob dort wohl was Sehenswertes zu erblicken wäre.
Viele Dörfer oben sind leer, verkommen, wahrscheinlich ausgestorben. Zwischendurch mal ein Unfall, zwei zertrümmerte Autos, glücklicherweise offenbar keine Verletzten, aber der Traum zweier Familien irgendwie zerknüllt am Strassenrand.
Flugzeugpneus mit Rillen
Es geht ordentlich voran, die Kilometertafeln schiessen auf mich zu, dann dröhnt es über mir, und ich kann die Pneu-Rillen eines Flugzeugs erkennen, das wenige Meter über mir die letzten Vorbereitungen zur Landung in Lamezia trifft. Falls ein Fluggast runterblickt, muss ihn die seltsame Befremdung überkommen, die sich einstellt, wenn man nach einem Flug plötzlich wieder Strassenhändler zwischen ihren Gemüsekisten erkennt oder Velofahrer, und nicht weiss, wie weit es noch bis zum Pistenanfang ist.
Ein langes Flussdelta, und vorn mahnt eine Autobahn, die sich auf hohen Pfeilern einen Hang hinauf schwingt, dass auch meine Strasse sich wieder von der Meereshöhe abheben wird. Bis Vibo Valentia steigt es vierhundert Meter, ich schwitze, klaue Feigen, der Gepäckträger quietscht wieder bedrohlich. Frage bei Tankstellen nach einem Schraubenschlüssel, doch sie haben nur Benzin und Diesel. Zwischendurch mal ein Halt in einer Gelateria, bei einem Melonenverkäufer, der mich ernsthaft fragt, was ich mit dem Ding will – essen natürlich. Was soll ich anderes essen in dieser Hitze als Gelati und riesige Melonen.
Eine Vegetation wie in einem anderen Land
Plötzlich ist der Verkehr verschwunden. Auf diesem letzten Teil der Fussspitze Italiens, der Halbinsel Cresta di Zungri, stehen die Autos still. Gut, es ist früher Nachmittag, die Leute dürften drin sein in ihren Häusern, Siesta machen, aber es ist so menschenleer. Die Halbinsel ist freundlich. Hat man mal die Höhe erreicht, geht es nur noch abwärts, durch stille Weiler, an Bauernhäusern vorbei, aus denen es vor allem nach erlöschenden Feuern riecht, einzelne Kamine rauchen noch in dieser Hitze – ich nehme an, die Leute hier kochen auf Feuer. Olivenhaine, sehr gepflegt, Orangen- und Zitronenplantagen – plötzlich und auf einen Schlag eine ganz andere Vegetation.
Strassenopfer
Noch etwas: Kaum mehr überkarrte Tiere auf den Strassen. Dafür immer häufiger, in bedrückend engen Abständen, Gedenksteine für Verkehrsopfer. So auffallend, dass ich immer wieder anhalte und sie mir ansehe. Junge Männer fast alle, die hier gestorben sind, zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig Jahren. Die einen sind in den Fünfziger Jahren gestorben, andere in den Sechzigern bis hin in die Achtziger. Sind umgekommen, man weiss nicht wie. Opfer der Strasse. In einer Bar sage ich einem älteren Mann, dass es hier ausserordentlich Verkehrstote gegeben habe. Ja, sagt er, sehr viele. Und er sagt es so, dass ich verstehe: Frag nicht mehr, ich weiss von nichts. Vielleicht hat der eine oder andere ganz einfach zuviel gewusst, um sein Auto oder Motorrad ordentlich zu steuern. Oder ist sonstwas dazwischen gekommen. Ich erinnere mich an die Erzählungen von Jürg Hagmann über die Camorra.
Dann nehme ich mir vor, in Palmi zu übernachten. Es ist früher Nachmittag, bin schon weit geradelt, doch vor Palmi geht es plötzlich wieder bergauf. Meter um Meter. Ich bin müde, mag nicht mehr, hab mich auf eine Küstenstrasse eingestellt, und jeder Meter tut weh.
Erster Blick nach Sizilien
Endlich senkt sich die Strasse, das Velo saust an ein paar Bäumen vorbei – dann seh ich weit weg eine Meerenge, dahinter Gebirge: Sizilien! Das Velo fällt mir aus der Hand, schlittert an einen Zaun und ich schaue fassungslos hinüber. Es drängt was wie Trauer und Freude hoch – dort drüben ist Sizilien! Bin einfach da gesessen, verschwitzt, kurze Hosen und sonst nichts und habe mit der Zeit gemerkt, dass die vorbeifahrenden Autos hupen und dass das Hupen mir gilt. Wie hab ich wohl ausgesehen?
Palmi hat so erwartungsvoll getönt. Palmi, Palmen – Strand – Ausgelassenheit.
Palmi ist ein vergessenes Dorf hoch über der Küste, einige tausend Einwohner, die gedrängt in den verschachtelten Häusern wohnen, von denen der Verputz fällt, vor deren Wände sie die Wäsche zum Trocknen hängen, Tücher über ihre Balkons festmachen, damit die Hitze nicht reinströmt und die Mücken grad auch nicht. Man kann hinein blicken in die Wohnungen, wo die Brautsteuer steht, dunkle Kleiderkästen, mächtige Ehebetten, wo die TV´s laufen, die Leute sich von Berlusconi berieseln lassen oder zusammensitzen, schwatzen, den fremden Velofahrer so verwundert anschauen, dass der meint, sie schauen bedrohlich. Irgendwo ist ein Wegweiser zu einem Hotel, ich fahre ihm nach, verpasse das Hotel, kurve Haarnadelkurve um Haarnadelkurve hinunter, gerate immer mehr in Niemandsland, gegen das Meer hin ist Einöde.
Erschreckte Liebespaare
Einmal ein Bahnhof und immer wieder erschreckte Liebespaare, die so verblüfft dreinschauen, dass der Velofahrer wieder meint, sie schauten bedrohlich. Er sieht ein, dass es hier nicht wirklich weitergeht, kehrt um, Haarnadelkurve um Haarnadelkurve hoch, kommt wieder an diesem Hotelschild vorbei, schaut nun genauer hin und findet es. Ein verfallender Kasten, in dem es tatsächlich noch ein freies Zimmer gibt, aber sonst nichts.
Wenn ich was essen möchte, müsse ich ins Dorf hinaufgehen. Und das tu ich. Schlendere durch diese engen Gassen, diese unendlich vielen und verwinkelten Gassen, wo immer wieder etwas ausgebessert wird und kaum ist es ausgebessert, zerstören es Wind, salzige Luft und wahrscheinlich Winterstürme und im Sommer die Hitze. Lauter fragende Blicke, keine Bar, kein Restaurant, nichts. Aber Palmi ist gross. Plötzlich höre ich Musik, gehe ihr nach und stehe in einem Markt, wo Gegenstände aus Afrika, Südamerika, Schleckereien, Polstergruppen, CD´s und Schmuck verkauft werden von Strassenhändlern. Massen von Einheimischen schlendern hindurch, schauen, kaufen nichts, geniessen aber die dargebotene Pracht und den Sonntagsabend.
Weit draussen eine Fähre
Am Ende des Marktes steht ein Platz hoch über dem Meer. Ich setze mich auf die Bank, der Himmel macht sich für den Abend bereit, die Sonne will untergehen und muss durch gewaltige Gewitterwolken hindurch. Ein Schauspiel von Farben in Grau, Blau, Grün und Feuerrot. Und dort hinten wieder Sizilien. Die Sonne leuchtet mal kurz in die Meerenge, lässt einen weissen Punkt blinken – es ist eine Fähre die vom Festland auf die Insel fährt.
Einige Leute sagen, es gäbe ein Restaurant. Ich schlendere dreiviertel Stunden durch die Gassen, es wird acht und hier bereits dunkel. Dann finde ich es. Ein altes Hotel, im Foyer sitzen zwei Greisinnen, die Wirtin wiegt an die hundertzwanzig Kilo, und ich bin der einzige Gast im riesigen Speisesaal. An den Wänden hängen Bilder von Heiligen, die fischen, segnen, Schafe hüten und andere sinnvolle Sachen tun. Ich esse Spaghetti nach Art des Hauses, Vitello mit Pilzen, trinke erst einen Viertel Weissen, dann einen Roten und weil es so gut war, bestelle ich zum Dessert ein Tiramisu. Die Wirtin holt aus der Tiefkühltruhe ein Eis. Alles für sehr wenig Geld.
Lichter
Dann gehe ich heim, will ich heimgehen. Finde den Weg in diesen verwinkelten Gassen nicht mehr, gerate ins Fest, das zum Markt gehört, eine Rockband spielt eben auf und plötzlich sehe ich dort hinten – weit im Meer – Lichter. Ja, es sind Lichter von Sizilien.
(Palmi, 18. August 2002)
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Karte

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Quelle

Bildlegende

Auf der Terasse von Palmi – weit hinten im Dunst ahnt man die Umrisse Siziliens.

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