Wildwestwolke: Eine Gabe vom Himmel

(… … … … … … …  … …… … … … … … … … … … … … … … … … … … …… … … … … … … … … … … … … … … … … … … Nun denn, es erstaunt mich zwar, aber es ist wirklich so, dass es immer wieder Leute gibt, die fragen, ob denn die Geschichte der Wildwestwolke nicht weitergehe. Obwohl ich nicht verstehe, dass jemand an solchen Phantastereien, die ja wirklich nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben, Interesse finden kann, folgen hier Ausschnitte aus dem nächsten, wenig ereignisreichen Kapitel. … … …   … … … … … … … … … … … … ……  … … Was mir natürlich schon irgendwie schmeichelt, ist die Wildwestwolke-Fanseite, die seit einigen Wochen im Netz aufgeschaltet ist. Auch wenn sie quantitativ noch Luft nach oben hat, so ist sie inhaltlich von solcher Brillanz, dass man gar nicht aufhören kann, über ihre Aussagen nachzudenken … … … … … … … … … … … … … … … … … … …… … … … … … … … … … … … … … ……… … Also denn: ) Die Designer in der grossen Stadt erwiesen sich als hartnäckige Verfechter ihrer Vorstellungen und wichen höchst ungern von ihren Entwürfen ab. Wir erstellten eine Liste von absoluten No Go’s, die wir erst mal durchgehen liessen, um nervenaufreibende Diskussionen zu vermeiden. Im allerletzten Moment würden wir sie aber durch unser eigenes Layout-Team ändern. Die Schriftgrösse zum Beispiel, welche die Designer so klein wählten, dass bei dämmrigen Licht selbst Adleraugen die Buchstaben nicht voneinander unterscheiden konnten.

Die Designer sagten, die Form sei genau so entscheidend für den Erfolg der gedruckten Ausgabe wie der Inhalt. Wenn wir die Schrift vergrössern würden, falle das ganze Layout auseinander. Und Inhalte von Journalisten würden sich ja sowieso mehr oder weniger gleichen.

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Eine ganze Reihe weiterer Details füllte unsere Liste. Die Designer beharrten etwa darauf, dass die Menschen im Porträt, das regelmässig auf der letzten Seite erscheinen sollte, immer kauernd fotografiert werden müssten. Als Asset, wie sie sagten. Als Wiedererkennungselement. Als Kernkompetenz. Und solche Sachen. Wir nickten das durch im Wissen, dass wir spätestens in der dritten Ausgabe von dieser Vorschrift abweichen würden.

Bildredaktor Bergundthal, der seine Ziele gern mit offenem Visier ansteuerte und fadengrad drauflos schritt, zeigte wenig Verständnis für unsere Taktik. Er betonte in mehreren Aussprachen, dass die beiden Designer nicht den Bruchteil ihres Honorars wert seien und – bei nüchternem Verstand betrachtet – bereits überfordert wären, eine Schülerzeitung zu konzipieren. Nun stelle man sich einmal vor, sagte er, journalistische Überlegungen führten uns dazu, einen Beinamputierten zu porträtieren. «Jetzt frag ich Euch: Wie wollt ihr einen Beinamputierten kauernd fotografieren?»

Bergundthals Frage brachte uns ein wenig in Argumentationsnot, was ihn sofort bewog, den beiden Designern eine Mail zu schreiben. Und zwar deutsch und deutlich. Erst rieten wir ihm davon ab, doch er wischte unsere Ratschläge weg. Dann untersagten wir es ihm mit dem Hinweis, dass wir erstens die Chefs seien und zweitens auch die Kontaktpersonen für die Designer in der grossen Stadt. Wir sagten ihm, wir wünschten keine atmosphärischen Erschütterungen, die die Zusammenarbeit über Gebühr erschwerten. Er fügte sich unserer Anweisung bis – wie wir dann feststellen mussten – kurz vor Mitternacht, als er sich vor dem Zubettgehen bei sich zuhause doch entschloss, sich über sie hinwegzusetzen.

Die von uns prognostizierte atmosphärische Erschütterung liess sich anderntags weder schriftlich noch telefonisch beheben. Rico Wind buchte umgehend ein Ticket in die grosse Stadt, um schon tags darauf den beiden Designern persönlich entgegenzutreten und sie von ihrem Vorhaben abzuhalten, sich ihr bisher verdientes Honorar ausschütten zu lassen und den Bettel hinzuschmeissen.

Es gelang ihm. Unter anderem auch mit dem Versprechen, dass künftig Jakob Bergundthal zwar weiterhin als Bildredaktor amten würde, dass aber immer dann, wenn die Designer ein illustrationsmässiges Anliegen mit der fürs Bild zuständigen Fachperson direkt zu besprechen hätten, ein Stellvertreter zum Gesprächspartner würde. Diesen hatten wir bereits seit einiger Zeit unter Vertrag, und er hatte sich – obwohl noch nicht die ganze Zeit verfügbar – schon ganz gut eingelebt.

Tom Made hiess er. Tom Made war der denkbar grandioseste Glücksfall für unser startendes Unternehmen. Eine Gabe vom Himmel. Seine Kreativität war unerschöpflich und überraschend, das sollte sich im Lauf der Monate jeden Tag von neuem zeigen. Rico Wind hatte ihn aufgespürt. Die Liste der eingegangenen Bewerbungen für den zweiten Bildredaktoren hatte ihn nie richtig überzeugt. «Zu wenig urbane Ausstrahlung» hatte er bei den meisten festgestellt, doch eines Morgens erwartete er mich strahlend und eröffnete mir, er habe Tom Made entdeckt. Ich müsse ihn unbedingt kennenlernen, in einer halben Stunde schaue er vorbei.

Wir trafen uns im Café Galileo, Mades dunkle Haare hingen ihm sperrig ins Gesicht, in den Kragen seines blütenweissen Hemds hatte er wie zum Hohn für alle vorbeigehenden Kravattenträger ein schwarzes, dünnes Band geknöpft, einer plattgewalzten Schnur nicht unähnlich. Ich starrte diese Kravattenparodie wohl etwas zu ausgiebig an, denn Tom Made hielt mir das untere Ende entgegen und sagte: «Damit du siehst, dass ich kein Hipster bin.» Wir mussten lachen.

Rico Wind erklärte, dass er und Tom Made sich eigentlich schon lange kennen würden, nur hätten sie sich ein bisschen aus den Augen verloren. Sie seien beide Kinder der wilden Achtziger Jahre, was mich bewog, ihn auf sein wirkliches Alter anzusprechen. «Ja, du Schlauer», sagte Rico Wind, «geboren in den Sechzigern, aber erwachsen geworden in den Achtzigern.» Tom Made sei wie er sehr, sehr urban. Vielleicht sogar noch ein bisschen urbaner. Da mussten wir wieder lachen. Die beiden hatten sich am Vorabend unverhoffterweise in einer Bar getroffen und Andy Nacht war zufälligerweise auch dazu gestossen. Sie hätten dann noch zwei, drei andere Lokalitäten aufgesucht – Tom Made und Rico Wind zwinkerten sich zu, was uns wieder zum Lachen brachte – und dabei ausgiebig über unser Projekt gesprochen.

Tom Made hatte eine Mappe mitgebracht. Wir schauten sie an. Es waren seine Werke als Fotograf, als Grafiker, als Gestalter. Er sei ein Anhänger der Reduktion. Aufs Wesentliche reduzieren. Überraschen. Meist sei schon die Reduktion die Überraschung. Menschen möge er nicht. Da mussten wir wieder lachen und Tom Made sagte, er möge Menschen grundsätzlich nicht, schon gar nicht die Langweiligen, die Dünnen, die Dicken, die Politischen, die Sozis übrigens auch nicht. Und als Fotosujet möge er sie ganz und gar nicht. Er fotografiere Menschen ungern, eigentlich fotografiere er sie gar nicht. Und wenn er einen fotografieren müsse, dann reduziere er ihn zuerst mit Plastilin aufs Wesentliche und mache davon ein Bild. Was er gern mit der Kamera festhalte, sei beispielsweise Hundekacke auf einem frisch gewischten Gehsteig. Das sage in seiner Reduktion doch ungewöhnlich viel aus.

Ich konnte sehr viel lernen in dieser Stunde im Café Galileo. Noch bevor Andy Nacht zufälligerweise auch zu uns stiess, war klar, dass Tom Made unser Team verstärken würde. Andy Nacht fragte ihn, ob er mir schon seine Illustration für eine längere Analyse über bevorstehende Wahlen gezeigt habe, das in einem Politmagazin erschienen war. Tom Made suchte es heraus und ich sah, wie er Scherenschnitte aus Wahlplakaten gezaubert hatte. Für eine Reportage über ungeklärte Brandfälle in einer Kleinstadt hatte er Legohäuser gebaut und sie angezündet.

Tom Mades Schöpfungsdrang sollte sich als grenzenlos herausstellen. Und als vielseitig – auch musikalisch musste er sich vor niemandem verstecken, denn er spielte seit Jahren Triangel. Nicht zu unterschätzen war seine Sprachgewandtheit. Er war perfekt zweisprachig, englisch und deutsch. Da meine Englischkenntnisse sich im hierzulande üblichen, biederen Rahmen halten, kann ich zwar nicht beurteilen, wie umfassend sein Wortschatz war. Aber seine Bilinguität stellte er immer wieder dadurch unter Beweis, dass er das Wort «fuck» fehlerfrei schreiben und akzentfrei aussprechen konnte. Auch im Umgang mit diesem weitläufigen Begriff zeigte sich seine Kreativität. Tom Made gelang es auf immer wieder überraschende Weise, dem Wort «fuck» in Verbindung mit anderen Wörtern neue Aussagen zu entlocken. Er schaffte es locker, «fuck» in einem Tweet von 140 Zeichen dreimal sinnbringend einzusetzen.

Auch sonst brachte er viele Ideen ein. Er bestand darauf, dass wir genau zwei Monate vor dem offiziellen Start unserer Zeitung ein Fest für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter organisieren und während dieses Festes auch den sorgsam geheim gehaltenen Namen «Wildwestwolke» über Blogs und über die Sozialen Medien der Öffentlichkeit preisgeben sollten. Dank seiner Beziehungen zu verschiedenen Persönlichkeiten in der Stadt war es ihm gelungen, einen privaten Garten für die Party zu reservieren. Er lag am Fluss und schien uns einen würdigen Rahmen abzugeben für einen Abend, der uns auf eindrückliche Weise demonstrieren sollte, wie trügerisch Sinneswahrnehmungen sein konnten.

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